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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
Entwicklung der Staatsidee und der Staatsgewalt, die sociale
Gliederung des Volks, das Machtverhältniß der einzelnen Clas-
sen, vor allem aber die moralische Kraft, die der Gedanke des
Rechts bei diesem Volk genießt, ob die Gerechtigkeit dem Volk
als etwas Hohes und Heiliges erscheint, oder als ein Gut, wie
jedes andere. Von der Energie des Gerechtigkeitsgefühls im
Volk hängt im wesentlichen die Unpartheilichkeit, Integrität
u. s. w. des Richterstandes ab. Bei einem Volk, dem die Ge-
rechtigkeit als etwas Heiliges gilt, wird der Richterstand un-
bestechlich und pflichttreu sein, denn ein solcher wird ihm einerseits
diejenige Stellung einräumen, die ihn gegen Versuchungen
schützt, andererseits aber durch die Schmach, mit der es die
Bestechung brandmarkt, mehr noch als durch die gesetzlichen
Strafen auch den unverläßlichen Richter auf der Bahn des
Rechts erhalten. Zu der ersten Classe von Gründen, die in dem
Recht selbst liegen, gehören theils die Organisation der Behör-
den (die Gerichtsverfassung) sowie die Form des Verfahrens
(der Prozeß) theils die Beschaffenheit des materiellen Rechts,
und dieser letzte Punkt bezeichnet uns das Gebiet, auf dem die
juristische Technik vorzugsweise thätig wird.

Daß der materielle Inhalt des Rechts vom größten Einfluß
auf dessen Verwirklichung ist, bedarf auch für den Laien keiner
Bemerkung. Bestimmungen, die völlig zweckwidrig sind, schei-
tern an ihrer eignen Unausführbarkeit, und Gesetze, die mit der
Zeit in Widerspruch stehen, mögen sie hinter ihr zurück oder
ihr voraus sein, können des ärgsten Widerstandes gewiß sein.
Von dieser materiellen Angemessenheit oder Unangemessenheit
wird aber im Folgenden gar keine Rede sein; der Jurist hat
keine Macht darüber, es geht über die Aufgabe der Technik hin-
aus. Die Angemessenheit des Rechts, die für sie allein in Be-
tracht kömmt, und mit der wir uns fortan ausschließlich zu be-
schäftigen haben, ist rein formaler Art. Die Frage ist nämlich
die: wie soll das Recht unbeschadet seines Inhaltes eingerichtet
und gestaltet sein, daß es durch die Art seines Mechanismus

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Entwicklung der Staatsidee und der Staatsgewalt, die ſociale
Gliederung des Volks, das Machtverhältniß der einzelnen Claſ-
ſen, vor allem aber die moraliſche Kraft, die der Gedanke des
Rechts bei dieſem Volk genießt, ob die Gerechtigkeit dem Volk
als etwas Hohes und Heiliges erſcheint, oder als ein Gut, wie
jedes andere. Von der Energie des Gerechtigkeitsgefühls im
Volk hängt im weſentlichen die Unpartheilichkeit, Integrität
u. ſ. w. des Richterſtandes ab. Bei einem Volk, dem die Ge-
rechtigkeit als etwas Heiliges gilt, wird der Richterſtand un-
beſtechlich und pflichttreu ſein, denn ein ſolcher wird ihm einerſeits
diejenige Stellung einräumen, die ihn gegen Verſuchungen
ſchützt, andererſeits aber durch die Schmach, mit der es die
Beſtechung brandmarkt, mehr noch als durch die geſetzlichen
Strafen auch den unverläßlichen Richter auf der Bahn des
Rechts erhalten. Zu der erſten Claſſe von Gründen, die in dem
Recht ſelbſt liegen, gehören theils die Organiſation der Behör-
den (die Gerichtsverfaſſung) ſowie die Form des Verfahrens
(der Prozeß) theils die Beſchaffenheit des materiellen Rechts,
und dieſer letzte Punkt bezeichnet uns das Gebiet, auf dem die
juriſtiſche Technik vorzugsweiſe thätig wird.

Daß der materielle Inhalt des Rechts vom größten Einfluß
auf deſſen Verwirklichung iſt, bedarf auch für den Laien keiner
Bemerkung. Beſtimmungen, die völlig zweckwidrig ſind, ſchei-
tern an ihrer eignen Unausführbarkeit, und Geſetze, die mit der
Zeit in Widerſpruch ſtehen, mögen ſie hinter ihr zurück oder
ihr voraus ſein, können des ärgſten Widerſtandes gewiß ſein.
Von dieſer materiellen Angemeſſenheit oder Unangemeſſenheit
wird aber im Folgenden gar keine Rede ſein; der Juriſt hat
keine Macht darüber, es geht über die Aufgabe der Technik hin-
aus. Die Angemeſſenheit des Rechts, die für ſie allein in Be-
tracht kömmt, und mit der wir uns fortan ausſchließlich zu be-
ſchäftigen haben, iſt rein formaler Art. Die Frage iſt nämlich
die: wie ſoll das Recht unbeſchadet ſeines Inhaltes eingerichtet
und geſtaltet ſein, daß es durch die Art ſeines Mechanismus

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[336/0042] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. Entwicklung der Staatsidee und der Staatsgewalt, die ſociale Gliederung des Volks, das Machtverhältniß der einzelnen Claſ- ſen, vor allem aber die moraliſche Kraft, die der Gedanke des Rechts bei dieſem Volk genießt, ob die Gerechtigkeit dem Volk als etwas Hohes und Heiliges erſcheint, oder als ein Gut, wie jedes andere. Von der Energie des Gerechtigkeitsgefühls im Volk hängt im weſentlichen die Unpartheilichkeit, Integrität u. ſ. w. des Richterſtandes ab. Bei einem Volk, dem die Ge- rechtigkeit als etwas Heiliges gilt, wird der Richterſtand un- beſtechlich und pflichttreu ſein, denn ein ſolcher wird ihm einerſeits diejenige Stellung einräumen, die ihn gegen Verſuchungen ſchützt, andererſeits aber durch die Schmach, mit der es die Beſtechung brandmarkt, mehr noch als durch die geſetzlichen Strafen auch den unverläßlichen Richter auf der Bahn des Rechts erhalten. Zu der erſten Claſſe von Gründen, die in dem Recht ſelbſt liegen, gehören theils die Organiſation der Behör- den (die Gerichtsverfaſſung) ſowie die Form des Verfahrens (der Prozeß) theils die Beſchaffenheit des materiellen Rechts, und dieſer letzte Punkt bezeichnet uns das Gebiet, auf dem die juriſtiſche Technik vorzugsweiſe thätig wird. Daß der materielle Inhalt des Rechts vom größten Einfluß auf deſſen Verwirklichung iſt, bedarf auch für den Laien keiner Bemerkung. Beſtimmungen, die völlig zweckwidrig ſind, ſchei- tern an ihrer eignen Unausführbarkeit, und Geſetze, die mit der Zeit in Widerſpruch ſtehen, mögen ſie hinter ihr zurück oder ihr voraus ſein, können des ärgſten Widerſtandes gewiß ſein. Von dieſer materiellen Angemeſſenheit oder Unangemeſſenheit wird aber im Folgenden gar keine Rede ſein; der Juriſt hat keine Macht darüber, es geht über die Aufgabe der Technik hin- aus. Die Angemeſſenheit des Rechts, die für ſie allein in Be- tracht kömmt, und mit der wir uns fortan ausſchließlich zu be- ſchäftigen haben, iſt rein formaler Art. Die Frage iſt nämlich die: wie ſoll das Recht unbeſchadet ſeines Inhaltes eingerichtet und geſtaltet ſein, daß es durch die Art ſeines Mechanismus

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/42>, abgerufen am 28.04.2024.