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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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II. Die Aufgabe derselben. §. 38.
zur Erfüllung der obigen Anforderungen in Bezug auf die Ver-
wirklichung des Rechts so viel wie möglich mitwirkt, die Ope-
ration der Anwendung seiner selbst auf den concreten Fall mög-
lichst erleichtert und sichert?

Der s. g. gesunde Menschenverstand wird keine andere Ant-
wort darauf haben, als: klare, bestimmte und detaillirte Abfas-
sung der Gesetze; die Antwort, die die Jurisprudenz d. h. die
Erfahrung darauf ertheilt, lautet ganz anders. Daß jene Eigen-
schaften, so wenig ich sie im übrigen gering schätzen will, nicht
ausreichen, läßt sich leicht nachweisen. Was nützen die genaue-
sten und ausführlichsten Gesetze, wenn sie der Richter, wie dies
z. B. in der spätern Kaiserzeit in Rom und heutzutage in Eng-
land der Fall, mit dem besten Willen nicht bewältigen kann?
Was ferner die schärfsten Begriffsbestimmungen und Unterschei-
dungen, wenn die Anwendung auf den einzelnen Fall mit den
größten Schwierigkeiten zu kämpfen hat, es dem Gesetze, um
einen frühern Ausdruck zu gebrauchen (S. B. 1. §. 3) an der
formalen Realisirbarkeit gebricht?

Die Frage, um die es sich handelt, ist eine reine Frage der
Zweckmäßigkeit, und die ganze Theorie der Technik ist nichts,
als die erkannte und befolgte Zweckmäßigkeit in Bezug auf die
Lösung der obigen Aufgabe. Aber so leicht es ist sich hiervon zu
überzeugen, nachdem das Richtige einmal gefunden, so täusche
man sich doch nicht über die Schwierigkeit der Aufgabe. Wir
haben es hier mit einer Aufgabe zu thun, deren Lösung auch
der höchsten geistigen Kraft und Anstrengung des Einzelnen
nicht einmal näherungsweise gelungen sein würde, einer Aufgabe
vielmehr, an der ganze Völker und Jahrhunderte arbeiten müs-
sen, und bei der der Instinkt vielleicht mehr gethan hat, als
alle Wissenschaft und Ueberlegung. Die Methode der Lösung
oder die Technik des Rechts ist nicht erst mit der Jurisprudenz
zur Welt gekommen. Längst vor aller Wissenschaft pflegt sich
der juristische Instinkt in dunkler Ahnung des Richtigen an der

Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 22

II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
zur Erfüllung der obigen Anforderungen in Bezug auf die Ver-
wirklichung des Rechts ſo viel wie möglich mitwirkt, die Ope-
ration der Anwendung ſeiner ſelbſt auf den concreten Fall mög-
lichſt erleichtert und ſichert?

Der ſ. g. geſunde Menſchenverſtand wird keine andere Ant-
wort darauf haben, als: klare, beſtimmte und detaillirte Abfaſ-
ſung der Geſetze; die Antwort, die die Jurisprudenz d. h. die
Erfahrung darauf ertheilt, lautet ganz anders. Daß jene Eigen-
ſchaften, ſo wenig ich ſie im übrigen gering ſchätzen will, nicht
ausreichen, läßt ſich leicht nachweiſen. Was nützen die genaue-
ſten und ausführlichſten Geſetze, wenn ſie der Richter, wie dies
z. B. in der ſpätern Kaiſerzeit in Rom und heutzutage in Eng-
land der Fall, mit dem beſten Willen nicht bewältigen kann?
Was ferner die ſchärfſten Begriffsbeſtimmungen und Unterſchei-
dungen, wenn die Anwendung auf den einzelnen Fall mit den
größten Schwierigkeiten zu kämpfen hat, es dem Geſetze, um
einen frühern Ausdruck zu gebrauchen (S. B. 1. §. 3) an der
formalen Realiſirbarkeit gebricht?

Die Frage, um die es ſich handelt, iſt eine reine Frage der
Zweckmäßigkeit, und die ganze Theorie der Technik iſt nichts,
als die erkannte und befolgte Zweckmäßigkeit in Bezug auf die
Löſung der obigen Aufgabe. Aber ſo leicht es iſt ſich hiervon zu
überzeugen, nachdem das Richtige einmal gefunden, ſo täuſche
man ſich doch nicht über die Schwierigkeit der Aufgabe. Wir
haben es hier mit einer Aufgabe zu thun, deren Löſung auch
der höchſten geiſtigen Kraft und Anſtrengung des Einzelnen
nicht einmal näherungsweiſe gelungen ſein würde, einer Aufgabe
vielmehr, an der ganze Völker und Jahrhunderte arbeiten müſ-
ſen, und bei der der Inſtinkt vielleicht mehr gethan hat, als
alle Wiſſenſchaft und Ueberlegung. Die Methode der Löſung
oder die Technik des Rechts iſt nicht erſt mit der Jurisprudenz
zur Welt gekommen. Längſt vor aller Wiſſenſchaft pflegt ſich
der juriſtiſche Inſtinkt in dunkler Ahnung des Richtigen an der

Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 22
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[337/0043] II. Die Aufgabe derſelben. §. 38. zur Erfüllung der obigen Anforderungen in Bezug auf die Ver- wirklichung des Rechts ſo viel wie möglich mitwirkt, die Ope- ration der Anwendung ſeiner ſelbſt auf den concreten Fall mög- lichſt erleichtert und ſichert? Der ſ. g. geſunde Menſchenverſtand wird keine andere Ant- wort darauf haben, als: klare, beſtimmte und detaillirte Abfaſ- ſung der Geſetze; die Antwort, die die Jurisprudenz d. h. die Erfahrung darauf ertheilt, lautet ganz anders. Daß jene Eigen- ſchaften, ſo wenig ich ſie im übrigen gering ſchätzen will, nicht ausreichen, läßt ſich leicht nachweiſen. Was nützen die genaue- ſten und ausführlichſten Geſetze, wenn ſie der Richter, wie dies z. B. in der ſpätern Kaiſerzeit in Rom und heutzutage in Eng- land der Fall, mit dem beſten Willen nicht bewältigen kann? Was ferner die ſchärfſten Begriffsbeſtimmungen und Unterſchei- dungen, wenn die Anwendung auf den einzelnen Fall mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen hat, es dem Geſetze, um einen frühern Ausdruck zu gebrauchen (S. B. 1. §. 3) an der formalen Realiſirbarkeit gebricht? Die Frage, um die es ſich handelt, iſt eine reine Frage der Zweckmäßigkeit, und die ganze Theorie der Technik iſt nichts, als die erkannte und befolgte Zweckmäßigkeit in Bezug auf die Löſung der obigen Aufgabe. Aber ſo leicht es iſt ſich hiervon zu überzeugen, nachdem das Richtige einmal gefunden, ſo täuſche man ſich doch nicht über die Schwierigkeit der Aufgabe. Wir haben es hier mit einer Aufgabe zu thun, deren Löſung auch der höchſten geiſtigen Kraft und Anſtrengung des Einzelnen nicht einmal näherungsweiſe gelungen ſein würde, einer Aufgabe vielmehr, an der ganze Völker und Jahrhunderte arbeiten müſ- ſen, und bei der der Inſtinkt vielleicht mehr gethan hat, als alle Wiſſenſchaft und Ueberlegung. Die Methode der Löſung oder die Technik des Rechts iſt nicht erſt mit der Jurisprudenz zur Welt gekommen. Längſt vor aller Wiſſenſchaft pflegt ſich der juriſtiſche Inſtinkt in dunkler Ahnung des Richtigen an der Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 22

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/43>, abgerufen am 28.04.2024.