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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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II. Die Aufgabe derselben. §. 38.
Frage der Zweckmäßigkeit zum Gegenstande, so muß ich noch in
einer anderen Beziehung gegen die Unterschätzung dieser Auf-
gabe warnen. Man könnte nämlich glauben, (und wie vielen Ur-
theilen neuerer Juristen liegt ein solcher Irrthum zu Grunde!) 479)
daß die Technik mit der sittlichen Seite des Rechts nichts gemein
habe, eine abgesonderte, selbständige Parthie desselben darstelle,
die technische Unvollkommenheit eines Rechts mithin bloß eine
partielle Unvollkommenheit, die Vernachlässigung einer einzelnen
Seite des Rechts enthalte. Sehr verkehrt! Technische Un-
vollkommenheit ist Unvollkommenheit des ganzen
Rechts
, ein Mangel, der das Recht überall, mithin auch in sei-
nem rein sittlichen Inhalt beeinträchtigt. Was hilft das Wollen
und Setzen der höchsten ethischen Anforderungen, was die wür-
digste Erfassung der Idee der Freiheit, Gerechtigkeit u. s. w. in
Form gesetzlicher Bestimmungen, wenn die Verwirklichung dieser
Ideen im concreten Rechtsverhältniß aus dem Grunde mangel-
haft, schwerfällig, ungleichmäßig u. s. w. ist, weil es der Technik
an der manuellen Geschicklichkeit fehlt, das Abstracte, so wie es
sich gehört, in Wirklichkeit umzusetzen? Darum hat die Technik
mittelbar die höchste ethische Bedeutung, und die praktische Ju-
risprudenz, indem sie bei der technischen Gestaltung des Stoffs
auch das Kleinste mit äußerster Sorgfalt behandelt, darf sich
rühmen durch Vervollkommnung der Technik des Rechts für das
Höchste und Größte thätig zu sein; ihre niedere und unschein-
bare Arbeit fördert letzteres in Wirklichkeit oft mehr, als die an-
spruchsvolle Thätigkeit des Philosophen.

Die bisherigen Bemerkungen über die Technik habe ich
geglaubt vorausschicken zu dürfen, bevor wir uns über den
Ausdruck selbst verständigt haben. Ich gebrauche letzteren in
einem doppelten Sinn, in einem subjectiven und objectiven. In

479) Namentlich bei der beliebten Frage über deutsches und römisches
Recht.
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II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
Frage der Zweckmäßigkeit zum Gegenſtande, ſo muß ich noch in
einer anderen Beziehung gegen die Unterſchätzung dieſer Auf-
gabe warnen. Man könnte nämlich glauben, (und wie vielen Ur-
theilen neuerer Juriſten liegt ein ſolcher Irrthum zu Grunde!) 479)
daß die Technik mit der ſittlichen Seite des Rechts nichts gemein
habe, eine abgeſonderte, ſelbſtändige Parthie deſſelben darſtelle,
die techniſche Unvollkommenheit eines Rechts mithin bloß eine
partielle Unvollkommenheit, die Vernachläſſigung einer einzelnen
Seite des Rechts enthalte. Sehr verkehrt! Techniſche Un-
vollkommenheit iſt Unvollkommenheit des ganzen
Rechts
, ein Mangel, der das Recht überall, mithin auch in ſei-
nem rein ſittlichen Inhalt beeinträchtigt. Was hilft das Wollen
und Setzen der höchſten ethiſchen Anforderungen, was die wür-
digſte Erfaſſung der Idee der Freiheit, Gerechtigkeit u. ſ. w. in
Form geſetzlicher Beſtimmungen, wenn die Verwirklichung dieſer
Ideen im concreten Rechtsverhältniß aus dem Grunde mangel-
haft, ſchwerfällig, ungleichmäßig u. ſ. w. iſt, weil es der Technik
an der manuellen Geſchicklichkeit fehlt, das Abſtracte, ſo wie es
ſich gehört, in Wirklichkeit umzuſetzen? Darum hat die Technik
mittelbar die höchſte ethiſche Bedeutung, und die praktiſche Ju-
risprudenz, indem ſie bei der techniſchen Geſtaltung des Stoffs
auch das Kleinſte mit äußerſter Sorgfalt behandelt, darf ſich
rühmen durch Vervollkommnung der Technik des Rechts für das
Höchſte und Größte thätig zu ſein; ihre niedere und unſchein-
bare Arbeit fördert letzteres in Wirklichkeit oft mehr, als die an-
ſpruchsvolle Thätigkeit des Philoſophen.

Die bisherigen Bemerkungen über die Technik habe ich
geglaubt vorausſchicken zu dürfen, bevor wir uns über den
Ausdruck ſelbſt verſtändigt haben. Ich gebrauche letzteren in
einem doppelten Sinn, in einem ſubjectiven und objectiven. In

479) Namentlich bei der beliebten Frage über deutſches und römiſches
Recht.
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[339/0045] II. Die Aufgabe derſelben. §. 38. Frage der Zweckmäßigkeit zum Gegenſtande, ſo muß ich noch in einer anderen Beziehung gegen die Unterſchätzung dieſer Auf- gabe warnen. Man könnte nämlich glauben, (und wie vielen Ur- theilen neuerer Juriſten liegt ein ſolcher Irrthum zu Grunde!) 479) daß die Technik mit der ſittlichen Seite des Rechts nichts gemein habe, eine abgeſonderte, ſelbſtändige Parthie deſſelben darſtelle, die techniſche Unvollkommenheit eines Rechts mithin bloß eine partielle Unvollkommenheit, die Vernachläſſigung einer einzelnen Seite des Rechts enthalte. Sehr verkehrt! Techniſche Un- vollkommenheit iſt Unvollkommenheit des ganzen Rechts, ein Mangel, der das Recht überall, mithin auch in ſei- nem rein ſittlichen Inhalt beeinträchtigt. Was hilft das Wollen und Setzen der höchſten ethiſchen Anforderungen, was die wür- digſte Erfaſſung der Idee der Freiheit, Gerechtigkeit u. ſ. w. in Form geſetzlicher Beſtimmungen, wenn die Verwirklichung dieſer Ideen im concreten Rechtsverhältniß aus dem Grunde mangel- haft, ſchwerfällig, ungleichmäßig u. ſ. w. iſt, weil es der Technik an der manuellen Geſchicklichkeit fehlt, das Abſtracte, ſo wie es ſich gehört, in Wirklichkeit umzuſetzen? Darum hat die Technik mittelbar die höchſte ethiſche Bedeutung, und die praktiſche Ju- risprudenz, indem ſie bei der techniſchen Geſtaltung des Stoffs auch das Kleinſte mit äußerſter Sorgfalt behandelt, darf ſich rühmen durch Vervollkommnung der Technik des Rechts für das Höchſte und Größte thätig zu ſein; ihre niedere und unſchein- bare Arbeit fördert letzteres in Wirklichkeit oft mehr, als die an- ſpruchsvolle Thätigkeit des Philoſophen. Die bisherigen Bemerkungen über die Technik habe ich geglaubt vorausſchicken zu dürfen, bevor wir uns über den Ausdruck ſelbſt verſtändigt haben. Ich gebrauche letzteren in einem doppelten Sinn, in einem ſubjectiven und objectiven. In 479) Namentlich bei der beliebten Frage über deutſches und römiſches Recht. 22*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/45>, abgerufen am 28.04.2024.