Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
Vollkommenheit erlernt werden können. Ohne das Alphabet
würde eine solche Herrschaft über die Sprache selbst durch die
äußerste Kraft und Anstrengung nicht erreicht werden können,
und Lesen und Schreiben die schwierigste aller Künste und Wis-
senschaften sein.

Das Alphabet enthält für das Gebiet der Sprache die Lösung
einer Aufgabe, die wir oben für das Recht als das Hauptpro-
blem der Technik bezeichnet haben: die Erleichterung der Herr-
schaft über den Stoff durch Vereinfachung desselben, und es liegt
daher sehr nahe zu fragen, ob nicht dieselbe Weise der Lösung
auch hier anwendbar, die Idee des Alphabets auf das Recht
übertragbar sei. Die Idee des Alphabets aber beruht auf Zer-
setzung, Zurückführung des Zusammengesetzten auf seine Ele-
mente, das Alphabet ist aus der Beobachtung hervorgegangen,
daß die Sprache ihren ganzen Reichthum an Worten durch eine
verschiedene Combination gewisser Grundlaute gebildet hat, und
daß mithin die Entdeckung und Bezeichnung dieser Grundlaute
ausreicht, um mit und aus ihnen jedes beliebige Wort zusam-
menzusetzen.

Was die Worte in der Sprache, das sind die Rechtsverhält-
nisse im Recht -- die Formen, in denen die geistige Bewegung
der Menschheit (Denken und Wollen) vor sich geht und sich bethä-
tigt; in Worten wie in Rechtsverhältnissen tritt das Indivi-
duum aus sich heraus und zu andern in eine geistige Verbin-
dung. Diese Bewegung ist aber eine unübersehbar reiche, ewig
neue und productive; jeder Tag bringt neue Worte, jeder Tag
neue Rechtsverhältnisse. Aber bei letzteren wie bei ersteren ist
dieser Reichthum und diese Verschiedenheit nur das Product einer
Combination einfacher Elemente, und hierauf beruht, wie bei der
Sprache, so auch beim Recht, die Möglichkeit einer verhältniß-
mäßig leichten Beherrschung der Sache. Die Aufgabe ist hier
wie dort Entdeckung dieser Elemente, Aufstellung eines Alpha-
bets. Ohne Alphabet wären wir verloren. Müßte der Gesetz-
geber für jedes Rechtsverhältniß oder jede besondere Gestaltung

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Vollkommenheit erlernt werden können. Ohne das Alphabet
würde eine ſolche Herrſchaft über die Sprache ſelbſt durch die
äußerſte Kraft und Anſtrengung nicht erreicht werden können,
und Leſen und Schreiben die ſchwierigſte aller Künſte und Wiſ-
ſenſchaften ſein.

Das Alphabet enthält für das Gebiet der Sprache die Löſung
einer Aufgabe, die wir oben für das Recht als das Hauptpro-
blem der Technik bezeichnet haben: die Erleichterung der Herr-
ſchaft über den Stoff durch Vereinfachung deſſelben, und es liegt
daher ſehr nahe zu fragen, ob nicht dieſelbe Weiſe der Löſung
auch hier anwendbar, die Idee des Alphabets auf das Recht
übertragbar ſei. Die Idee des Alphabets aber beruht auf Zer-
ſetzung, Zurückführung des Zuſammengeſetzten auf ſeine Ele-
mente, das Alphabet iſt aus der Beobachtung hervorgegangen,
daß die Sprache ihren ganzen Reichthum an Worten durch eine
verſchiedene Combination gewiſſer Grundlaute gebildet hat, und
daß mithin die Entdeckung und Bezeichnung dieſer Grundlaute
ausreicht, um mit und aus ihnen jedes beliebige Wort zuſam-
menzuſetzen.

Was die Worte in der Sprache, das ſind die Rechtsverhält-
niſſe im Recht — die Formen, in denen die geiſtige Bewegung
der Menſchheit (Denken und Wollen) vor ſich geht und ſich bethä-
tigt; in Worten wie in Rechtsverhältniſſen tritt das Indivi-
duum aus ſich heraus und zu andern in eine geiſtige Verbin-
dung. Dieſe Bewegung iſt aber eine unüberſehbar reiche, ewig
neue und productive; jeder Tag bringt neue Worte, jeder Tag
neue Rechtsverhältniſſe. Aber bei letzteren wie bei erſteren iſt
dieſer Reichthum und dieſe Verſchiedenheit nur das Product einer
Combination einfacher Elemente, und hierauf beruht, wie bei der
Sprache, ſo auch beim Recht, die Möglichkeit einer verhältniß-
mäßig leichten Beherrſchung der Sache. Die Aufgabe iſt hier
wie dort Entdeckung dieſer Elemente, Aufſtellung eines Alpha-
bets. Ohne Alphabet wären wir verloren. Müßte der Geſetz-
geber für jedes Rechtsverhältniß oder jede beſondere Geſtaltung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0066" n="360"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die juri&#x017F;t. Technik. <hi rendition="#aq">A.</hi> Im allgem.</fw><lb/>
Vollkommenheit erlernt werden können. Ohne das Alphabet<lb/>
würde eine &#x017F;olche Herr&#x017F;chaft über die Sprache &#x017F;elb&#x017F;t durch die<lb/>
äußer&#x017F;te Kraft und An&#x017F;trengung nicht erreicht werden können,<lb/>
und Le&#x017F;en und Schreiben die &#x017F;chwierig&#x017F;te aller Kün&#x017F;te und Wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaften &#x017F;ein.</p><lb/>
                    <p>Das Alphabet enthält für das Gebiet der Sprache die Lö&#x017F;ung<lb/>
einer Aufgabe, die wir oben für das Recht als das Hauptpro-<lb/>
blem der Technik bezeichnet haben: die Erleichterung der Herr-<lb/>
&#x017F;chaft über den Stoff durch Vereinfachung de&#x017F;&#x017F;elben, und es liegt<lb/>
daher &#x017F;ehr nahe zu fragen, ob nicht die&#x017F;elbe Wei&#x017F;e der Lö&#x017F;ung<lb/>
auch hier anwendbar, die Idee des Alphabets auf das Recht<lb/>
übertragbar &#x017F;ei. Die Idee des Alphabets aber beruht auf Zer-<lb/>
&#x017F;etzung, Zurückführung des Zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzten auf &#x017F;eine Ele-<lb/>
mente, das Alphabet i&#x017F;t aus der Beobachtung hervorgegangen,<lb/>
daß die Sprache ihren ganzen Reichthum an Worten durch eine<lb/>
ver&#x017F;chiedene Combination gewi&#x017F;&#x017F;er Grundlaute gebildet hat, und<lb/>
daß mithin die Entdeckung und Bezeichnung die&#x017F;er Grundlaute<lb/>
ausreicht, um mit und aus ihnen jedes beliebige Wort zu&#x017F;am-<lb/>
menzu&#x017F;etzen.</p><lb/>
                    <p>Was die Worte in der Sprache, das &#x017F;ind die Rechtsverhält-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e im Recht &#x2014; die Formen, in denen die gei&#x017F;tige Bewegung<lb/>
der Men&#x017F;chheit (Denken und Wollen) vor &#x017F;ich geht und &#x017F;ich bethä-<lb/>
tigt; in Worten wie in Rechtsverhältni&#x017F;&#x017F;en tritt das Indivi-<lb/>
duum aus &#x017F;ich heraus und zu andern in eine gei&#x017F;tige Verbin-<lb/>
dung. Die&#x017F;e Bewegung i&#x017F;t aber eine unüber&#x017F;ehbar reiche, ewig<lb/>
neue und productive; jeder Tag bringt neue Worte, jeder Tag<lb/>
neue Rechtsverhältni&#x017F;&#x017F;e. Aber bei letzteren wie bei er&#x017F;teren i&#x017F;t<lb/>
die&#x017F;er Reichthum und die&#x017F;e Ver&#x017F;chiedenheit nur das Product einer<lb/>
Combination einfacher Elemente, und hierauf beruht, wie bei der<lb/>
Sprache, &#x017F;o auch beim Recht, die Möglichkeit einer verhältniß-<lb/>
mäßig leichten Beherr&#x017F;chung der Sache. Die Aufgabe i&#x017F;t hier<lb/>
wie dort Entdeckung die&#x017F;er Elemente, Auf&#x017F;tellung eines Alpha-<lb/>
bets. Ohne Alphabet wären wir verloren. Müßte der Ge&#x017F;etz-<lb/>
geber für jedes Rechtsverhältniß oder jede be&#x017F;ondere Ge&#x017F;taltung<lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[360/0066] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. Vollkommenheit erlernt werden können. Ohne das Alphabet würde eine ſolche Herrſchaft über die Sprache ſelbſt durch die äußerſte Kraft und Anſtrengung nicht erreicht werden können, und Leſen und Schreiben die ſchwierigſte aller Künſte und Wiſ- ſenſchaften ſein. Das Alphabet enthält für das Gebiet der Sprache die Löſung einer Aufgabe, die wir oben für das Recht als das Hauptpro- blem der Technik bezeichnet haben: die Erleichterung der Herr- ſchaft über den Stoff durch Vereinfachung deſſelben, und es liegt daher ſehr nahe zu fragen, ob nicht dieſelbe Weiſe der Löſung auch hier anwendbar, die Idee des Alphabets auf das Recht übertragbar ſei. Die Idee des Alphabets aber beruht auf Zer- ſetzung, Zurückführung des Zuſammengeſetzten auf ſeine Ele- mente, das Alphabet iſt aus der Beobachtung hervorgegangen, daß die Sprache ihren ganzen Reichthum an Worten durch eine verſchiedene Combination gewiſſer Grundlaute gebildet hat, und daß mithin die Entdeckung und Bezeichnung dieſer Grundlaute ausreicht, um mit und aus ihnen jedes beliebige Wort zuſam- menzuſetzen. Was die Worte in der Sprache, das ſind die Rechtsverhält- niſſe im Recht — die Formen, in denen die geiſtige Bewegung der Menſchheit (Denken und Wollen) vor ſich geht und ſich bethä- tigt; in Worten wie in Rechtsverhältniſſen tritt das Indivi- duum aus ſich heraus und zu andern in eine geiſtige Verbin- dung. Dieſe Bewegung iſt aber eine unüberſehbar reiche, ewig neue und productive; jeder Tag bringt neue Worte, jeder Tag neue Rechtsverhältniſſe. Aber bei letzteren wie bei erſteren iſt dieſer Reichthum und dieſe Verſchiedenheit nur das Product einer Combination einfacher Elemente, und hierauf beruht, wie bei der Sprache, ſo auch beim Recht, die Möglichkeit einer verhältniß- mäßig leichten Beherrſchung der Sache. Die Aufgabe iſt hier wie dort Entdeckung dieſer Elemente, Aufſtellung eines Alpha- bets. Ohne Alphabet wären wir verloren. Müßte der Geſetz- geber für jedes Rechtsverhältniß oder jede beſondere Geſtaltung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/66
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/66>, abgerufen am 13.05.2024.