eines solchen eine Regel aufstellen, es würde der Stoff uns nicht bloß durch seine Massenhaftigkeit erdrücken, sondern trotz der- selben uns täglich im Stich lassen, da die Erfindungskraft des Lebens aller Voraussicht und Berechnung spottet.
Zersetzung des Stoffs, Auffindung der einfachen Elemente des Rechts ist also der in der innersten Nothwendigkeit der Sache selbst gelegene Weg zum Ziel. Es bewährt sich hier eine Bemer- kung, die wir früher (S. 27) bei einer andern Gelegenheit zu machen hatten, daß das Wesen des Rechts in Zersetzen, Schei- den, Trennen bestehe. Die juristische Technik läßt sich nach die- ser Seite hin als eine Chemie des Rechts bezeichnen, als die juristische Scheidekunst, welche die einfachen Körper sucht. Auf je weniger einfache Körper sie den Stoff zurückführt, je mehr sie alle zusammengesetzten als das erkennt, was sie sind, und ihnen damit den Schein selbstständiger juristischer Existenz ent- zieht, um so höher ihre Kunst, um so vollkommener das Recht.
In welcher Weise geschieht diese Zersetzung, wie ist sie mög- lich? Ich hoffe dies bereits an dieser Stelle klar machen zu können, will jedoch bemerken, daß dieser Gegenstand erst bei Gelegenheit der juristischen Construction sein volles Licht erhal- ten wird.
Ich nehme an, daß man bei Ausarbeitung eines Gesetz- buches zuerst den Kaufcontract behandelt und alle denkbaren Fra- gen, die im Leben bei ihm vorkommen können, entschieden hat. Späterhin handelt es sich um eine gleiche legislative Normirung anderer Contracte z. B. des Tausch-, Miethcontractes. Hier werden nun neben solchen Fragen, die rein und ausschließlich auf dies besondere Verhältniß sich beziehen, auch solche wieder- kehren, die bereits bei Gelegenheit des Kaufcontracts und mit Rücksicht auf ihn entschieden worden sind z. B. die Frage über den Einfluß des Irrthums auf die Gültigkeit des Contracts, über die Folgen der Mangelhaftigkeit oder Verzögerung der Lei- stung. Es wäre nun denkbar, daß man eine solche sich öfter wie- derholende Frage mit Rücksicht auf die wirkliche oder vermeint-
1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
eines ſolchen eine Regel aufſtellen, es würde der Stoff uns nicht bloß durch ſeine Maſſenhaftigkeit erdrücken, ſondern trotz der- ſelben uns täglich im Stich laſſen, da die Erfindungskraft des Lebens aller Vorausſicht und Berechnung ſpottet.
Zerſetzung des Stoffs, Auffindung der einfachen Elemente des Rechts iſt alſo der in der innerſten Nothwendigkeit der Sache ſelbſt gelegene Weg zum Ziel. Es bewährt ſich hier eine Bemer- kung, die wir früher (S. 27) bei einer andern Gelegenheit zu machen hatten, daß das Weſen des Rechts in Zerſetzen, Schei- den, Trennen beſtehe. Die juriſtiſche Technik läßt ſich nach die- ſer Seite hin als eine Chemie des Rechts bezeichnen, als die juriſtiſche Scheidekunſt, welche die einfachen Körper ſucht. Auf je weniger einfache Körper ſie den Stoff zurückführt, je mehr ſie alle zuſammengeſetzten als das erkennt, was ſie ſind, und ihnen damit den Schein ſelbſtſtändiger juriſtiſcher Exiſtenz ent- zieht, um ſo höher ihre Kunſt, um ſo vollkommener das Recht.
In welcher Weiſe geſchieht dieſe Zerſetzung, wie iſt ſie mög- lich? Ich hoffe dies bereits an dieſer Stelle klar machen zu können, will jedoch bemerken, daß dieſer Gegenſtand erſt bei Gelegenheit der juriſtiſchen Conſtruction ſein volles Licht erhal- ten wird.
Ich nehme an, daß man bei Ausarbeitung eines Geſetz- buches zuerſt den Kaufcontract behandelt und alle denkbaren Fra- gen, die im Leben bei ihm vorkommen können, entſchieden hat. Späterhin handelt es ſich um eine gleiche legislative Normirung anderer Contracte z. B. des Tauſch-, Miethcontractes. Hier werden nun neben ſolchen Fragen, die rein und ausſchließlich auf dies beſondere Verhältniß ſich beziehen, auch ſolche wieder- kehren, die bereits bei Gelegenheit des Kaufcontracts und mit Rückſicht auf ihn entſchieden worden ſind z. B. die Frage über den Einfluß des Irrthums auf die Gültigkeit des Contracts, über die Folgen der Mangelhaftigkeit oder Verzögerung der Lei- ſtung. Es wäre nun denkbar, daß man eine ſolche ſich öfter wie- derholende Frage mit Rückſicht auf die wirkliche oder vermeint-
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1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
eines ſolchen eine Regel aufſtellen, es würde der Stoff uns nicht
bloß durch ſeine Maſſenhaftigkeit erdrücken, ſondern trotz der-
ſelben uns täglich im Stich laſſen, da die Erfindungskraft des
Lebens aller Vorausſicht und Berechnung ſpottet.
Zerſetzung des Stoffs, Auffindung der einfachen Elemente
des Rechts iſt alſo der in der innerſten Nothwendigkeit der Sache
ſelbſt gelegene Weg zum Ziel. Es bewährt ſich hier eine Bemer-
kung, die wir früher (S. 27) bei einer andern Gelegenheit zu
machen hatten, daß das Weſen des Rechts in Zerſetzen, Schei-
den, Trennen beſtehe. Die juriſtiſche Technik läßt ſich nach die-
ſer Seite hin als eine Chemie des Rechts bezeichnen, als
die juriſtiſche Scheidekunſt, welche die einfachen Körper ſucht.
Auf je weniger einfache Körper ſie den Stoff zurückführt, je mehr
ſie alle zuſammengeſetzten als das erkennt, was ſie ſind, und
ihnen damit den Schein ſelbſtſtändiger juriſtiſcher Exiſtenz ent-
zieht, um ſo höher ihre Kunſt, um ſo vollkommener das Recht.
In welcher Weiſe geſchieht dieſe Zerſetzung, wie iſt ſie mög-
lich? Ich hoffe dies bereits an dieſer Stelle klar machen zu
können, will jedoch bemerken, daß dieſer Gegenſtand erſt bei
Gelegenheit der juriſtiſchen Conſtruction ſein volles Licht erhal-
ten wird.
Ich nehme an, daß man bei Ausarbeitung eines Geſetz-
buches zuerſt den Kaufcontract behandelt und alle denkbaren Fra-
gen, die im Leben bei ihm vorkommen können, entſchieden hat.
Späterhin handelt es ſich um eine gleiche legislative Normirung
anderer Contracte z. B. des Tauſch-, Miethcontractes. Hier
werden nun neben ſolchen Fragen, die rein und ausſchließlich
auf dies beſondere Verhältniß ſich beziehen, auch ſolche wieder-
kehren, die bereits bei Gelegenheit des Kaufcontracts und mit
Rückſicht auf ihn entſchieden worden ſind z. B. die Frage über
den Einfluß des Irrthums auf die Gültigkeit des Contracts,
über die Folgen der Mangelhaftigkeit oder Verzögerung der Lei-
ſtung. Es wäre nun denkbar, daß man eine ſolche ſich öfter wie-
derholende Frage mit Rückſicht auf die wirkliche oder vermeint-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/67>, abgerufen am 16.02.2025.
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