Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
liche Besonderheit des Verhältnisses jedes Mal von neuem und
in anderer Weise entschiede. Das Gesammtmaterial, das zur
Beantwortung der einen Frage producirt worden wäre, würde
sich hier von den einzelnen Verhältnissen, in und an denen es
existirte, nicht in der Weise trennen lassen, daß aus demsel-
ben eine für alle einzelnen Verhältnisse zutreffende allgemeine
Theorie jener Frage gebildet werden könnte; dem Stoff selbst
fehlte das allgemeine Dasein und mithin der Jurisprudenz
die Möglichkeit zum Analysiren und Abstrahiren. Wollte sie das
Material dennoch trennen und zusammentragen, so wäre dies
eine rein äußerliche, nutzlose Zusammenstellung, ein Aggregat
von abgerissenen Bruchstücken verschiedener juristischer Körper,
von denen sich jedes hier, so zu sagen, deplacirt fühlte und nach
seinem natürlichen Zusammenhang zurücksehnte. Das Allge-
meine
lag nicht in der Antwort, sondern in der Frage;
mit einer Generalisirung der Frage ist nichts gewonnen, wenn
nicht die Antwort darauf, sei es auch nur in irgend einer Be-
ziehung, generell lauten kann.

Ich möchte eine solche Methode der gesetzlichen Regulirung
einer Frage, die den Stoff local zerstreut, zersplittert, die loca-
lisirende
nennen. Eine absolute Localisirung des Rechtsstoffs
ist eine Unmöglichkeit; das Moment der Allgemeinheit, das ein-
mal in den Dingen liegt, wird sich auch ohne Wissen und Wil-
len des Gesetzgebers geltend machen, und hätte er den Stoff auch
noch so sehr localisirt, die Jurisprudenz würde immer einige,
wenn auch noch so allgemeine Abstractionen demselben entneh-
men können.

Den Gegensatz zu dieser Methode bildet die abstracte
Rechtsproduction. Ich nenne sie so, weil und insofern sie eine
Frage von den einzelnen Verhältnissen, bei denen dieselbe prak-
tisch allein zum Vorschein kömmt (z. B. der Irrthum nur bei
Abschluß eines einzelnen Contracts) abstrahirt, sie für alle d. h.
allgemein, abstract entscheidet. Das Ziel derselben ist nicht,
daß der ganze Rechtsstoff allgemein werde, sondern so viel

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
liche Beſonderheit des Verhältniſſes jedes Mal von neuem und
in anderer Weiſe entſchiede. Das Geſammtmaterial, das zur
Beantwortung der einen Frage producirt worden wäre, würde
ſich hier von den einzelnen Verhältniſſen, in und an denen es
exiſtirte, nicht in der Weiſe trennen laſſen, daß aus demſel-
ben eine für alle einzelnen Verhältniſſe zutreffende allgemeine
Theorie jener Frage gebildet werden könnte; dem Stoff ſelbſt
fehlte das allgemeine Daſein und mithin der Jurisprudenz
die Möglichkeit zum Analyſiren und Abſtrahiren. Wollte ſie das
Material dennoch trennen und zuſammentragen, ſo wäre dies
eine rein äußerliche, nutzloſe Zuſammenſtellung, ein Aggregat
von abgeriſſenen Bruchſtücken verſchiedener juriſtiſcher Körper,
von denen ſich jedes hier, ſo zu ſagen, deplacirt fühlte und nach
ſeinem natürlichen Zuſammenhang zurückſehnte. Das Allge-
meine
lag nicht in der Antwort, ſondern in der Frage;
mit einer Generaliſirung der Frage iſt nichts gewonnen, wenn
nicht die Antwort darauf, ſei es auch nur in irgend einer Be-
ziehung, generell lauten kann.

Ich möchte eine ſolche Methode der geſetzlichen Regulirung
einer Frage, die den Stoff local zerſtreut, zerſplittert, die loca-
liſirende
nennen. Eine abſolute Localiſirung des Rechtsſtoffs
iſt eine Unmöglichkeit; das Moment der Allgemeinheit, das ein-
mal in den Dingen liegt, wird ſich auch ohne Wiſſen und Wil-
len des Geſetzgebers geltend machen, und hätte er den Stoff auch
noch ſo ſehr localiſirt, die Jurisprudenz würde immer einige,
wenn auch noch ſo allgemeine Abſtractionen demſelben entneh-
men können.

Den Gegenſatz zu dieſer Methode bildet die abſtracte
Rechtsproduction. Ich nenne ſie ſo, weil und inſofern ſie eine
Frage von den einzelnen Verhältniſſen, bei denen dieſelbe prak-
tiſch allein zum Vorſchein kömmt (z. B. der Irrthum nur bei
Abſchluß eines einzelnen Contracts) abſtrahirt, ſie für alle d. h.
allgemein, abſtract entſcheidet. Das Ziel derſelben iſt nicht,
daß der ganze Rechtsſtoff allgemein werde, ſondern ſo viel

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0068" n="362"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die juri&#x017F;t. Technik. <hi rendition="#aq">A.</hi> Im allgem.</fw><lb/>
liche Be&#x017F;onderheit des Verhältni&#x017F;&#x017F;es jedes Mal von neuem und<lb/>
in anderer Wei&#x017F;e ent&#x017F;chiede. Das Ge&#x017F;ammtmaterial, das zur<lb/>
Beantwortung der <hi rendition="#g">einen</hi> Frage producirt worden wäre, würde<lb/>
&#x017F;ich hier von den einzelnen Verhältni&#x017F;&#x017F;en, in und an denen es<lb/>
exi&#x017F;tirte, nicht in der Wei&#x017F;e trennen la&#x017F;&#x017F;en, daß aus dem&#x017F;el-<lb/>
ben eine für alle einzelnen Verhältni&#x017F;&#x017F;e zutreffende <hi rendition="#g">allgemeine</hi><lb/>
Theorie jener Frage gebildet werden könnte; dem Stoff &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
fehlte das <hi rendition="#g">allgemeine</hi> Da&#x017F;ein und mithin der Jurisprudenz<lb/>
die Möglichkeit zum Analy&#x017F;iren und Ab&#x017F;trahiren. Wollte &#x017F;ie das<lb/>
Material dennoch trennen und zu&#x017F;ammentragen, &#x017F;o wäre dies<lb/>
eine rein äußerliche, nutzlo&#x017F;e Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellung, ein Aggregat<lb/>
von abgeri&#x017F;&#x017F;enen Bruch&#x017F;tücken ver&#x017F;chiedener juri&#x017F;ti&#x017F;cher Körper,<lb/>
von denen &#x017F;ich jedes hier, &#x017F;o zu &#x017F;agen, deplacirt fühlte und nach<lb/>
&#x017F;einem natürlichen Zu&#x017F;ammenhang zurück&#x017F;ehnte. Das <hi rendition="#g">Allge-<lb/>
meine</hi> lag nicht in der <hi rendition="#g">Antwort</hi>, &#x017F;ondern in der <hi rendition="#g">Frage</hi>;<lb/>
mit einer Generali&#x017F;irung der Frage i&#x017F;t nichts gewonnen, wenn<lb/>
nicht die Antwort darauf, &#x017F;ei es auch nur in irgend <hi rendition="#g">einer</hi> Be-<lb/>
ziehung, generell lauten kann.</p><lb/>
                    <p>Ich möchte eine &#x017F;olche Methode der ge&#x017F;etzlichen Regulirung<lb/>
einer Frage, die den Stoff local zer&#x017F;treut, zer&#x017F;plittert, die <hi rendition="#g">loca-<lb/>
li&#x017F;irende</hi> nennen. Eine ab&#x017F;olute Locali&#x017F;irung des Rechts&#x017F;toffs<lb/>
i&#x017F;t eine Unmöglichkeit; das Moment der Allgemeinheit, das ein-<lb/>
mal in den Dingen liegt, wird &#x017F;ich auch ohne Wi&#x017F;&#x017F;en und Wil-<lb/>
len des Ge&#x017F;etzgebers geltend machen, und hätte er den Stoff auch<lb/>
noch &#x017F;o &#x017F;ehr locali&#x017F;irt, die Jurisprudenz würde immer einige,<lb/>
wenn auch noch &#x017F;o allgemeine Ab&#x017F;tractionen dem&#x017F;elben entneh-<lb/>
men können.</p><lb/>
                    <p>Den Gegen&#x017F;atz zu die&#x017F;er Methode bildet die <hi rendition="#g">ab&#x017F;tracte</hi><lb/>
Rechtsproduction. Ich nenne &#x017F;ie &#x017F;o, weil und in&#x017F;ofern &#x017F;ie eine<lb/>
Frage von den einzelnen Verhältni&#x017F;&#x017F;en, bei denen die&#x017F;elbe prak-<lb/>
ti&#x017F;ch allein zum Vor&#x017F;chein kömmt (z. B. der Irrthum nur bei<lb/>
Ab&#x017F;chluß eines einzelnen Contracts) ab&#x017F;trahirt, &#x017F;ie für <hi rendition="#g">alle</hi> d. h.<lb/><hi rendition="#g">allgemein</hi>, ab&#x017F;tract ent&#x017F;cheidet. Das Ziel der&#x017F;elben i&#x017F;t nicht,<lb/>
daß der <hi rendition="#g">ganze</hi> Rechts&#x017F;toff allgemein werde, &#x017F;ondern &#x017F;o viel<lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[362/0068] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. liche Beſonderheit des Verhältniſſes jedes Mal von neuem und in anderer Weiſe entſchiede. Das Geſammtmaterial, das zur Beantwortung der einen Frage producirt worden wäre, würde ſich hier von den einzelnen Verhältniſſen, in und an denen es exiſtirte, nicht in der Weiſe trennen laſſen, daß aus demſel- ben eine für alle einzelnen Verhältniſſe zutreffende allgemeine Theorie jener Frage gebildet werden könnte; dem Stoff ſelbſt fehlte das allgemeine Daſein und mithin der Jurisprudenz die Möglichkeit zum Analyſiren und Abſtrahiren. Wollte ſie das Material dennoch trennen und zuſammentragen, ſo wäre dies eine rein äußerliche, nutzloſe Zuſammenſtellung, ein Aggregat von abgeriſſenen Bruchſtücken verſchiedener juriſtiſcher Körper, von denen ſich jedes hier, ſo zu ſagen, deplacirt fühlte und nach ſeinem natürlichen Zuſammenhang zurückſehnte. Das Allge- meine lag nicht in der Antwort, ſondern in der Frage; mit einer Generaliſirung der Frage iſt nichts gewonnen, wenn nicht die Antwort darauf, ſei es auch nur in irgend einer Be- ziehung, generell lauten kann. Ich möchte eine ſolche Methode der geſetzlichen Regulirung einer Frage, die den Stoff local zerſtreut, zerſplittert, die loca- liſirende nennen. Eine abſolute Localiſirung des Rechtsſtoffs iſt eine Unmöglichkeit; das Moment der Allgemeinheit, das ein- mal in den Dingen liegt, wird ſich auch ohne Wiſſen und Wil- len des Geſetzgebers geltend machen, und hätte er den Stoff auch noch ſo ſehr localiſirt, die Jurisprudenz würde immer einige, wenn auch noch ſo allgemeine Abſtractionen demſelben entneh- men können. Den Gegenſatz zu dieſer Methode bildet die abſtracte Rechtsproduction. Ich nenne ſie ſo, weil und inſofern ſie eine Frage von den einzelnen Verhältniſſen, bei denen dieſelbe prak- tiſch allein zum Vorſchein kömmt (z. B. der Irrthum nur bei Abſchluß eines einzelnen Contracts) abſtrahirt, ſie für alle d. h. allgemein, abſtract entſcheidet. Das Ziel derſelben iſt nicht, daß der ganze Rechtsſtoff allgemein werde, ſondern ſo viel

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/68
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/68>, abgerufen am 13.05.2024.