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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
gend für den, der die Aussprache kennt, aber für den, der letztere
darnach lernen wollte, durchaus unzureichend. Rücksichtlich des
Rechts gilt für die niedersten Stufen allerdings ganz dasselbe
(Bd. 1 S. 17--21), das geschriebene Recht gewährt auch hier
nur einen sehr ungenauen Anhaltspunkt für das Sprechen
des Rechts, allein ich brauche kaum zu bemerken, daß die mög-
lichste Congruenz zwischen dem Schreiben oder Setzen des Rechts
und dem Recht-Sprechen gerade eins der Ziele aller Entwicke-
lung des Rechts bildet. Soll Recht gesprochen werden, wie es
geschrieben ist, so muß es auch geschrieben werden, wie gespro-
chen werden soll. Für die Sprache hat jene möglichste Con-
gruenz, wenigstens was den Inländer anbetrifft, keine praktische
Bedeutung, für das Recht die äußerste. Darum also kann die
Sprache ungenau, das Recht aber nicht exact genug verfahren,
und so erklärt es sich, daß erstere mit einer kleinen Zahl von Buch-
staben ausreicht, während letzteres eine große Zahl nöthig hat.

Aus dieser Verschiedenheit beider rücksichtlich des Maßes der
von ihnen beiden angewandten Genauigkeit ergibt sich ein fer-
nerer Unterschied zwischen ihnen. Während nämlich das Alpha-
bet der Sprache vollkommen abgeschlossen ist und mithin trotz
aller Umwandlung der Sprache dasselbe geblieben ist und blei-
ben wird, da es eben die feineren Nüancen in der Aussprache
nicht wiedergibt; während dasselbe ferner sich nicht auf eine ein-
zelne Sprache beschränkt, sondern für ganze Sprachfamilien im
wesentlichen dasselbe ist, kann das des Rechts auf eine gleiche
von Zeit und Ort, von der Geschichte und Nationalität unab-
hängige Geltung keinen Anspruch machen. Man könnte mir
einwenden, daß es doch auch im Recht Grundbegriffe von abso-
luter Wahrheit gebe, seien es auch nur juristisch-logische Kate-
gorien, oder rein formale Begriffe wie z. B. der Begriff der
juristischen Unmöglichkeit, der Gegensatz der Nichtigkeit und An-
fechtbarkeit, des Rechts und der Ausübung, des Irrthums im
Object und in den Beweggründen u. s. w., und daß dieselben
mithin, bei welchem Volk sie immerhin zuerst entdeckt und aus-

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
gend für den, der die Ausſprache kennt, aber für den, der letztere
darnach lernen wollte, durchaus unzureichend. Rückſichtlich des
Rechts gilt für die niederſten Stufen allerdings ganz daſſelbe
(Bd. 1 S. 17—21), das geſchriebene Recht gewährt auch hier
nur einen ſehr ungenauen Anhaltspunkt für das Sprechen
des Rechts, allein ich brauche kaum zu bemerken, daß die mög-
lichſte Congruenz zwiſchen dem Schreiben oder Setzen des Rechts
und dem Recht-Sprechen gerade eins der Ziele aller Entwicke-
lung des Rechts bildet. Soll Recht geſprochen werden, wie es
geſchrieben iſt, ſo muß es auch geſchrieben werden, wie geſpro-
chen werden ſoll. Für die Sprache hat jene möglichſte Con-
gruenz, wenigſtens was den Inländer anbetrifft, keine praktiſche
Bedeutung, für das Recht die äußerſte. Darum alſo kann die
Sprache ungenau, das Recht aber nicht exact genug verfahren,
und ſo erklärt es ſich, daß erſtere mit einer kleinen Zahl von Buch-
ſtaben ausreicht, während letzteres eine große Zahl nöthig hat.

Aus dieſer Verſchiedenheit beider rückſichtlich des Maßes der
von ihnen beiden angewandten Genauigkeit ergibt ſich ein fer-
nerer Unterſchied zwiſchen ihnen. Während nämlich das Alpha-
bet der Sprache vollkommen abgeſchloſſen iſt und mithin trotz
aller Umwandlung der Sprache daſſelbe geblieben iſt und blei-
ben wird, da es eben die feineren Nüancen in der Ausſprache
nicht wiedergibt; während daſſelbe ferner ſich nicht auf eine ein-
zelne Sprache beſchränkt, ſondern für ganze Sprachfamilien im
weſentlichen daſſelbe iſt, kann das des Rechts auf eine gleiche
von Zeit und Ort, von der Geſchichte und Nationalität unab-
hängige Geltung keinen Anſpruch machen. Man könnte mir
einwenden, daß es doch auch im Recht Grundbegriffe von abſo-
luter Wahrheit gebe, ſeien es auch nur juriſtiſch-logiſche Kate-
gorien, oder rein formale Begriffe wie z. B. der Begriff der
juriſtiſchen Unmöglichkeit, der Gegenſatz der Nichtigkeit und An-
fechtbarkeit, des Rechts und der Ausübung, des Irrthums im
Object und in den Beweggründen u. ſ. w., und daß dieſelben
mithin, bei welchem Volk ſie immerhin zuerſt entdeckt und aus-

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[374/0080] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. gend für den, der die Ausſprache kennt, aber für den, der letztere darnach lernen wollte, durchaus unzureichend. Rückſichtlich des Rechts gilt für die niederſten Stufen allerdings ganz daſſelbe (Bd. 1 S. 17—21), das geſchriebene Recht gewährt auch hier nur einen ſehr ungenauen Anhaltspunkt für das Sprechen des Rechts, allein ich brauche kaum zu bemerken, daß die mög- lichſte Congruenz zwiſchen dem Schreiben oder Setzen des Rechts und dem Recht-Sprechen gerade eins der Ziele aller Entwicke- lung des Rechts bildet. Soll Recht geſprochen werden, wie es geſchrieben iſt, ſo muß es auch geſchrieben werden, wie geſpro- chen werden ſoll. Für die Sprache hat jene möglichſte Con- gruenz, wenigſtens was den Inländer anbetrifft, keine praktiſche Bedeutung, für das Recht die äußerſte. Darum alſo kann die Sprache ungenau, das Recht aber nicht exact genug verfahren, und ſo erklärt es ſich, daß erſtere mit einer kleinen Zahl von Buch- ſtaben ausreicht, während letzteres eine große Zahl nöthig hat. Aus dieſer Verſchiedenheit beider rückſichtlich des Maßes der von ihnen beiden angewandten Genauigkeit ergibt ſich ein fer- nerer Unterſchied zwiſchen ihnen. Während nämlich das Alpha- bet der Sprache vollkommen abgeſchloſſen iſt und mithin trotz aller Umwandlung der Sprache daſſelbe geblieben iſt und blei- ben wird, da es eben die feineren Nüancen in der Ausſprache nicht wiedergibt; während daſſelbe ferner ſich nicht auf eine ein- zelne Sprache beſchränkt, ſondern für ganze Sprachfamilien im weſentlichen daſſelbe iſt, kann das des Rechts auf eine gleiche von Zeit und Ort, von der Geſchichte und Nationalität unab- hängige Geltung keinen Anſpruch machen. Man könnte mir einwenden, daß es doch auch im Recht Grundbegriffe von abſo- luter Wahrheit gebe, ſeien es auch nur juriſtiſch-logiſche Kate- gorien, oder rein formale Begriffe wie z. B. der Begriff der juriſtiſchen Unmöglichkeit, der Gegenſatz der Nichtigkeit und An- fechtbarkeit, des Rechts und der Ausübung, des Irrthums im Object und in den Beweggründen u. ſ. w., und daß dieſelben mithin, bei welchem Volk ſie immerhin zuerſt entdeckt und aus-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/80>, abgerufen am 13.05.2024.