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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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1. Die juristische Analyse. §. 39.
schieden antipathisch verhält. Denn jene Methode ist die reine
Negation seiner eignen Anschauungs- und Gefühlsweise, sie ist
berechnet darauf, der Herrschaft des Rechtsgefühls ein Ende
zu machen. Das Charakteristische der Auffassungsweise des
Laien, möge es sich um das abstracte Recht oder um die Beur-
theilung eines einzelnen Rechtsverhältnisses handeln, besteht in
dem Nicht-Scheiden, oder positiv ausgedrückt in der Hin-
gabe an den Totaleindruck. 498) Alle jene einzelnen Elemente,
Seiten, Beziehungen eines Rechtsinstituts oder Rechtsfalles, die
sich dem juristischen Auge als einzelne darstellen, fließen für
ihn zusammen, und die Gesammtwirkung, die der Gegenstand
auf sein Gefühl ausübt, der Totaleindruck dieses Bildes, ist es,
der sein Urtheil bestimmt. Der Laie wird es unbegreiflich fin-
den, daß der Jurist ein Institut des Lebens, in dem er, der
Laie, Ein organisches Ganze erblickt, und das ihm jedenfalls
als eine gegebene Thatsache des Lebens eines weiteren Suchens
nicht mehr bedürftig erscheint, mühsam in einzelne Atome auf-
löst und es sodann erst aus ihnen wieder zusammensetzt. Wenn
ein Kläger, der einen durchaus begründeten Anspruch hat, eine
unvortheilhafte Wahl der Klage trifft z. B. statt der act. in pers.
eine act. in rem, so prüft der Richter lediglich, ob die Voraus-
setzungen dieser Klage vorhanden sind und weist mithin im
Verneinungsfall den Kläger mit dieser Klage ab, ungeachtet
aus den Verhandlungen sich ergibt, daß der Anspruch des Klä-
gers, wenn er mit einer andern Klage geltend gemacht werden
sollte, durchaus begründet ist. Dies wird dem Laien höchst an-

498) Der Gegensatz der Beurtheilung eines Rechtsverhältnisses nach Weise
des Juristen und Laien ist schon von Tryphonin in der L. 31 §. 1 Depos.
(16. 3)
ausgesprochen. Er unterscheidet hier 1. si per se dantem acci-
pientemque intuemur
(wenn wir die verschiedenen Verhältnisse zwischen den
zwei Gebern und Empfängern unterscheiden), haec est bona fides etc., 2. si
totius rei aequitatem, quae ex omnibus personis, quae negotio isto
continguntur
(wenn wir das Gesammtverhältniß und das schließliche End-
resultat ins Auge fassen).

1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
ſchieden antipathiſch verhält. Denn jene Methode iſt die reine
Negation ſeiner eignen Anſchauungs- und Gefühlsweiſe, ſie iſt
berechnet darauf, der Herrſchaft des Rechtsgefühls ein Ende
zu machen. Das Charakteriſtiſche der Auffaſſungsweiſe des
Laien, möge es ſich um das abſtracte Recht oder um die Beur-
theilung eines einzelnen Rechtsverhältniſſes handeln, beſteht in
dem Nicht-Scheiden, oder poſitiv ausgedrückt in der Hin-
gabe an den Totaleindruck. 498) Alle jene einzelnen Elemente,
Seiten, Beziehungen eines Rechtsinſtituts oder Rechtsfalles, die
ſich dem juriſtiſchen Auge als einzelne darſtellen, fließen für
ihn zuſammen, und die Geſammtwirkung, die der Gegenſtand
auf ſein Gefühl ausübt, der Totaleindruck dieſes Bildes, iſt es,
der ſein Urtheil beſtimmt. Der Laie wird es unbegreiflich fin-
den, daß der Juriſt ein Inſtitut des Lebens, in dem er, der
Laie, Ein organiſches Ganze erblickt, und das ihm jedenfalls
als eine gegebene Thatſache des Lebens eines weiteren Suchens
nicht mehr bedürftig erſcheint, mühſam in einzelne Atome auf-
löſt und es ſodann erſt aus ihnen wieder zuſammenſetzt. Wenn
ein Kläger, der einen durchaus begründeten Anſpruch hat, eine
unvortheilhafte Wahl der Klage trifft z. B. ſtatt der act. in pers.
eine act. in rem, ſo prüft der Richter lediglich, ob die Voraus-
ſetzungen dieſer Klage vorhanden ſind und weiſt mithin im
Verneinungsfall den Kläger mit dieſer Klage ab, ungeachtet
aus den Verhandlungen ſich ergibt, daß der Anſpruch des Klä-
gers, wenn er mit einer andern Klage geltend gemacht werden
ſollte, durchaus begründet iſt. Dies wird dem Laien höchſt an-

498) Der Gegenſatz der Beurtheilung eines Rechtsverhältniſſes nach Weiſe
des Juriſten und Laien iſt ſchon von Tryphonin in der L. 31 §. 1 Depos.
(16. 3)
ausgeſprochen. Er unterſcheidet hier 1. si per se dantem acci-
pientemque intuemur
(wenn wir die verſchiedenen Verhältniſſe zwiſchen den
zwei Gebern und Empfängern unterſcheiden), haec est bona fides etc., 2. si
totius rei aequitatem, quae ex omnibus personis, quae negotio isto
continguntur
(wenn wir das Geſammtverhältniß und das ſchließliche End-
reſultat ins Auge faſſen).
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[377/0083] 1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39. ſchieden antipathiſch verhält. Denn jene Methode iſt die reine Negation ſeiner eignen Anſchauungs- und Gefühlsweiſe, ſie iſt berechnet darauf, der Herrſchaft des Rechtsgefühls ein Ende zu machen. Das Charakteriſtiſche der Auffaſſungsweiſe des Laien, möge es ſich um das abſtracte Recht oder um die Beur- theilung eines einzelnen Rechtsverhältniſſes handeln, beſteht in dem Nicht-Scheiden, oder poſitiv ausgedrückt in der Hin- gabe an den Totaleindruck. 498) Alle jene einzelnen Elemente, Seiten, Beziehungen eines Rechtsinſtituts oder Rechtsfalles, die ſich dem juriſtiſchen Auge als einzelne darſtellen, fließen für ihn zuſammen, und die Geſammtwirkung, die der Gegenſtand auf ſein Gefühl ausübt, der Totaleindruck dieſes Bildes, iſt es, der ſein Urtheil beſtimmt. Der Laie wird es unbegreiflich fin- den, daß der Juriſt ein Inſtitut des Lebens, in dem er, der Laie, Ein organiſches Ganze erblickt, und das ihm jedenfalls als eine gegebene Thatſache des Lebens eines weiteren Suchens nicht mehr bedürftig erſcheint, mühſam in einzelne Atome auf- löſt und es ſodann erſt aus ihnen wieder zuſammenſetzt. Wenn ein Kläger, der einen durchaus begründeten Anſpruch hat, eine unvortheilhafte Wahl der Klage trifft z. B. ſtatt der act. in pers. eine act. in rem, ſo prüft der Richter lediglich, ob die Voraus- ſetzungen dieſer Klage vorhanden ſind und weiſt mithin im Verneinungsfall den Kläger mit dieſer Klage ab, ungeachtet aus den Verhandlungen ſich ergibt, daß der Anſpruch des Klä- gers, wenn er mit einer andern Klage geltend gemacht werden ſollte, durchaus begründet iſt. Dies wird dem Laien höchſt an- 498) Der Gegenſatz der Beurtheilung eines Rechtsverhältniſſes nach Weiſe des Juriſten und Laien iſt ſchon von Tryphonin in der L. 31 §. 1 Depos. (16. 3) ausgeſprochen. Er unterſcheidet hier 1. si per se dantem acci- pientemque intuemur (wenn wir die verſchiedenen Verhältniſſe zwiſchen den zwei Gebern und Empfängern unterſcheiden), haec est bona fides etc., 2. si totius rei aequitatem, quae ex omnibus personis, quae negotio isto continguntur (wenn wir das Geſammtverhältniß und das ſchließliche End- reſultat ins Auge faſſen).

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/83>, abgerufen am 21.11.2024.