Aber gesetzt, wir sind zu der Ueberzeugung gelangt, daß dies unmöglich, daß sich hier vielmehr zwei Gedanken kreuzen oder bekämpfen, daß der eine die Regel, der andere die Ausnahme in sich schließe: was ist Regel, was ist Ausnahme, und ist über- haupt noch an Eine Regel zu denken, oder ist das Ganze nicht vielmehr völlig zwiespältig?
Es ist auch der entgegengesetzte Fall möglich, daß eine Be- stimmung sich fälschlich als Ausnahme gibt, die es in der That nicht ist, sich vielmehr durch eine richtigere Fassung des Princips beseitigen läßt. Ja es ist sogar nicht ungewöhnlich, daß ein Rechtssatz historisch d. h. dem bisherigen Recht gegenüber eine wirkliche Ausnahme begründet, während doch im Grunde mit dieser Ausnahme nur das bisherige Princip modificirt wor- den ist, so daß es also nur einer andern Fassung desselben bedarf, um den Gegensatz der Regel und Ausnahme darin aufgehen zu lassen. Die Ausnahme ist häufig nur die Form, in der das Princip selbst sich verjüngt. In diesem Fall verlockt uns, so zu sagen, die Geschichte selbst zum Irrthum, und so wird es möglich, daß Jahrhunderte lang als Regel und Ausnahme figurirt, was in der That gemeinschaftlich unter ein und dasselbe höhere Princip fällt. Das Darlehn erforderte ursprünglich, daß der Schuldner unmittelbar vom Gläubiger das Eigenthum erwarb. 503) Als nun die Praxis in mehren Punkten diesen Satz verlassen hatte, erschien diese Abweichung der alten Regel gegenüber als Ausnahme, und als solche erkannten auch die späteren römischen Juristen sie an. 504) Allein hinter der Aus- nahme versteckt sich nur eine Erweiterung des Begriffs oder Prin- cips des Darlehns selbst, nämlich die: daß das Darlehn nicht mehr den Uebergang des Eigenthums von dem Einen auf den Andern, sondern den (also auch mittelbaren d. h. durch Eigenthumsübertragung von einem Dritten vermittelten) Ueber-
503)L. 34 pr. Mand. (17. 1) .. nummi, qui mei erant, tui fiunt.
504)L. 15 de R. Cr. (12. 1) Singularia quaedam recepta sunt etc.
2. Die logiſche Concentration. §. 40.
Aber geſetzt, wir ſind zu der Ueberzeugung gelangt, daß dies unmöglich, daß ſich hier vielmehr zwei Gedanken kreuzen oder bekämpfen, daß der eine die Regel, der andere die Ausnahme in ſich ſchließe: was iſt Regel, was iſt Ausnahme, und iſt über- haupt noch an Eine Regel zu denken, oder iſt das Ganze nicht vielmehr völlig zwieſpältig?
Es iſt auch der entgegengeſetzte Fall möglich, daß eine Be- ſtimmung ſich fälſchlich als Ausnahme gibt, die es in der That nicht iſt, ſich vielmehr durch eine richtigere Faſſung des Princips beſeitigen läßt. Ja es iſt ſogar nicht ungewöhnlich, daß ein Rechtsſatz hiſtoriſch d. h. dem bisherigen Recht gegenüber eine wirkliche Ausnahme begründet, während doch im Grunde mit dieſer Ausnahme nur das bisherige Princip modificirt wor- den iſt, ſo daß es alſo nur einer andern Faſſung deſſelben bedarf, um den Gegenſatz der Regel und Ausnahme darin aufgehen zu laſſen. Die Ausnahme iſt häufig nur die Form, in der das Princip ſelbſt ſich verjüngt. In dieſem Fall verlockt uns, ſo zu ſagen, die Geſchichte ſelbſt zum Irrthum, und ſo wird es möglich, daß Jahrhunderte lang als Regel und Ausnahme figurirt, was in der That gemeinſchaftlich unter ein und daſſelbe höhere Princip fällt. Das Darlehn erforderte urſprünglich, daß der Schuldner unmittelbar vom Gläubiger das Eigenthum erwarb. 503) Als nun die Praxis in mehren Punkten dieſen Satz verlaſſen hatte, erſchien dieſe Abweichung der alten Regel gegenüber als Ausnahme, und als ſolche erkannten auch die ſpäteren römiſchen Juriſten ſie an. 504) Allein hinter der Aus- nahme verſteckt ſich nur eine Erweiterung des Begriffs oder Prin- cips des Darlehns ſelbſt, nämlich die: daß das Darlehn nicht mehr den Uebergang des Eigenthums von dem Einen auf den Andern, ſondern den (alſo auch mittelbaren d. h. durch Eigenthumsübertragung von einem Dritten vermittelten) Ueber-
503)L. 34 pr. Mand. (17. 1) .. nummi, qui mei erant, tui fiunt.
504)L. 15 de R. Cr. (12. 1) Singularia quaedam recepta sunt etc.
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[383/0089]
2. Die logiſche Concentration. §. 40.
Aber geſetzt, wir ſind zu der Ueberzeugung gelangt, daß dies
unmöglich, daß ſich hier vielmehr zwei Gedanken kreuzen oder
bekämpfen, daß der eine die Regel, der andere die Ausnahme
in ſich ſchließe: was iſt Regel, was iſt Ausnahme, und iſt über-
haupt noch an Eine Regel zu denken, oder iſt das Ganze nicht
vielmehr völlig zwieſpältig?
Es iſt auch der entgegengeſetzte Fall möglich, daß eine Be-
ſtimmung ſich fälſchlich als Ausnahme gibt, die es in der That
nicht iſt, ſich vielmehr durch eine richtigere Faſſung des Princips
beſeitigen läßt. Ja es iſt ſogar nicht ungewöhnlich, daß ein
Rechtsſatz hiſtoriſch d. h. dem bisherigen Recht gegenüber
eine wirkliche Ausnahme begründet, während doch im Grunde
mit dieſer Ausnahme nur das bisherige Princip modificirt wor-
den iſt, ſo daß es alſo nur einer andern Faſſung deſſelben bedarf,
um den Gegenſatz der Regel und Ausnahme darin aufgehen zu
laſſen. Die Ausnahme iſt häufig nur die Form, in
der das Princip ſelbſt ſich verjüngt. In dieſem Fall
verlockt uns, ſo zu ſagen, die Geſchichte ſelbſt zum Irrthum,
und ſo wird es möglich, daß Jahrhunderte lang als Regel und
Ausnahme figurirt, was in der That gemeinſchaftlich unter
ein und daſſelbe höhere Princip fällt. Das Darlehn erforderte
urſprünglich, daß der Schuldner unmittelbar vom Gläubiger das
Eigenthum erwarb. 503) Als nun die Praxis in mehren Punkten
dieſen Satz verlaſſen hatte, erſchien dieſe Abweichung der alten
Regel gegenüber als Ausnahme, und als ſolche erkannten auch
die ſpäteren römiſchen Juriſten ſie an. 504) Allein hinter der Aus-
nahme verſteckt ſich nur eine Erweiterung des Begriffs oder Prin-
cips des Darlehns ſelbſt, nämlich die: daß das Darlehn nicht
mehr den Uebergang des Eigenthums von dem Einen auf
den Andern, ſondern den (alſo auch mittelbaren d. h. durch
Eigenthumsübertragung von einem Dritten vermittelten) Ueber-
503) L. 34 pr. Mand. (17. 1) .. nummi, qui mei erant, tui fiunt.
504) L. 15 de R. Cr. (12. 1) Singularia quaedam recepta sunt etc.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/89>, abgerufen am 16.02.2025.
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