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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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A. Der Proceß. Gesammturtheil. §. 52.
riellen Verlustes, und es wird daher begreiflich, daß die Ent-
wicklung der Industrie, des Handels, kurz der Arbeit nicht um-
hin gekonnt hat, einen ganz bestimmenden Einfluß auf die
Proceßorganisation auszuüben. So tritt an die Stelle des eige-
nen Erscheinens der Parthei die Vertretung durch Sachwalter,
welche in einem einzigen Termin die Geschäfte von vielen Par-
theien versehen, so an die der Mündlichkeit und des persönlichen
Erscheinens vor Gericht die Schriftlichkeit.

Diese Rücksichten waren jedoch nicht maßgebend in einem Ge-
meinwesen, wie im alten Rom, wo von der ländlichen Arbeit abge-
sehen nur die Zeit des Sklaven Geld war, und auch die ländliche
Arbeit dem freien Bauern Zeit genug übrig ließ, bei seinem Markt-
gange nach Rom zugleich seine Rechtsstreitigkeiten zu versehen.
Das Interesse einer durch veränderte Proceßorganisation zu er-
reichenden Zeitersparniß, das Gewicht der Frage, ob Kläger und
Beklagter in Form eines oder zweier und mehrerer Processe ihren
Streit austragen müssen, würde hier kaum verstanden worden sein.

Aber das Verständniß drängte sich unabweisbar auf, als das
Staatsgebiet von Jahr zu Jahr sich ausdehnte, und die Entfer-
nungen wuchsen. Dieser Umstand der für das gesammte Recht,
soweit es mit dem persönlichen Erscheinen zusammenhängt, einen
so fühlbaren Einfluß geäußert hat (B. 2 S. 689 flg.), mußte in
Verbindung mit dem in gleichem Schritt mit der Cultur steigenden
Werth der Zeit und dem Hang zu Bequemlichkeit auch eine ent-
sprechende Veränderung der Proceßorganisation zur Folge haben.
Jetzt war es nicht mehr gleichgültig, ob jeder selbst kommen
mußte oder einen Stellvertreter schicken durfte, ob er seine Sache
mittelst Exceptionen in einem Proceß erledigen konnte, oder nach
alter Weise mittelst eines besondern Processes. Ob das spätere
römische Recht dieser Rücksicht aber nicht auf Kosten anderer nicht
minder gewichtiger Interessen einen ungebührlichen Einfluß
vergönnt hat, das ist eine Frage, auf die ich mir die Antwort für
das dritte System vorbehalte.

So schrumpfen also die scheinbaren Gebrechen des alten Pro-

A. Der Proceß. Geſammturtheil. §. 52.
riellen Verluſtes, und es wird daher begreiflich, daß die Ent-
wicklung der Induſtrie, des Handels, kurz der Arbeit nicht um-
hin gekonnt hat, einen ganz beſtimmenden Einfluß auf die
Proceßorganiſation auszuüben. So tritt an die Stelle des eige-
nen Erſcheinens der Parthei die Vertretung durch Sachwalter,
welche in einem einzigen Termin die Geſchäfte von vielen Par-
theien verſehen, ſo an die der Mündlichkeit und des perſönlichen
Erſcheinens vor Gericht die Schriftlichkeit.

Dieſe Rückſichten waren jedoch nicht maßgebend in einem Ge-
meinweſen, wie im alten Rom, wo von der ländlichen Arbeit abge-
ſehen nur die Zeit des Sklaven Geld war, und auch die ländliche
Arbeit dem freien Bauern Zeit genug übrig ließ, bei ſeinem Markt-
gange nach Rom zugleich ſeine Rechtsſtreitigkeiten zu verſehen.
Das Intereſſe einer durch veränderte Proceßorganiſation zu er-
reichenden Zeiterſparniß, das Gewicht der Frage, ob Kläger und
Beklagter in Form eines oder zweier und mehrerer Proceſſe ihren
Streit austragen müſſen, würde hier kaum verſtanden worden ſein.

Aber das Verſtändniß drängte ſich unabweisbar auf, als das
Staatsgebiet von Jahr zu Jahr ſich ausdehnte, und die Entfer-
nungen wuchſen. Dieſer Umſtand der für das geſammte Recht,
ſoweit es mit dem perſönlichen Erſcheinen zuſammenhängt, einen
ſo fühlbaren Einfluß geäußert hat (B. 2 S. 689 flg.), mußte in
Verbindung mit dem in gleichem Schritt mit der Cultur ſteigenden
Werth der Zeit und dem Hang zu Bequemlichkeit auch eine ent-
ſprechende Veränderung der Proceßorganiſation zur Folge haben.
Jetzt war es nicht mehr gleichgültig, ob jeder ſelbſt kommen
mußte oder einen Stellvertreter ſchicken durfte, ob er ſeine Sache
mittelſt Exceptionen in einem Proceß erledigen konnte, oder nach
alter Weiſe mittelſt eines beſondern Proceſſes. Ob das ſpätere
römiſche Recht dieſer Rückſicht aber nicht auf Koſten anderer nicht
minder gewichtiger Intereſſen einen ungebührlichen Einfluß
vergönnt hat, das iſt eine Frage, auf die ich mir die Antwort für
das dritte Syſtem vorbehalte.

So ſchrumpfen alſo die ſcheinbaren Gebrechen des alten Pro-

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[123/0139] A. Der Proceß. Geſammturtheil. §. 52. riellen Verluſtes, und es wird daher begreiflich, daß die Ent- wicklung der Induſtrie, des Handels, kurz der Arbeit nicht um- hin gekonnt hat, einen ganz beſtimmenden Einfluß auf die Proceßorganiſation auszuüben. So tritt an die Stelle des eige- nen Erſcheinens der Parthei die Vertretung durch Sachwalter, welche in einem einzigen Termin die Geſchäfte von vielen Par- theien verſehen, ſo an die der Mündlichkeit und des perſönlichen Erſcheinens vor Gericht die Schriftlichkeit. Dieſe Rückſichten waren jedoch nicht maßgebend in einem Ge- meinweſen, wie im alten Rom, wo von der ländlichen Arbeit abge- ſehen nur die Zeit des Sklaven Geld war, und auch die ländliche Arbeit dem freien Bauern Zeit genug übrig ließ, bei ſeinem Markt- gange nach Rom zugleich ſeine Rechtsſtreitigkeiten zu verſehen. Das Intereſſe einer durch veränderte Proceßorganiſation zu er- reichenden Zeiterſparniß, das Gewicht der Frage, ob Kläger und Beklagter in Form eines oder zweier und mehrerer Proceſſe ihren Streit austragen müſſen, würde hier kaum verſtanden worden ſein. Aber das Verſtändniß drängte ſich unabweisbar auf, als das Staatsgebiet von Jahr zu Jahr ſich ausdehnte, und die Entfer- nungen wuchſen. Dieſer Umſtand der für das geſammte Recht, ſoweit es mit dem perſönlichen Erſcheinen zuſammenhängt, einen ſo fühlbaren Einfluß geäußert hat (B. 2 S. 689 flg.), mußte in Verbindung mit dem in gleichem Schritt mit der Cultur ſteigenden Werth der Zeit und dem Hang zu Bequemlichkeit auch eine ent- ſprechende Veränderung der Proceßorganiſation zur Folge haben. Jetzt war es nicht mehr gleichgültig, ob jeder ſelbſt kommen mußte oder einen Stellvertreter ſchicken durfte, ob er ſeine Sache mittelſt Exceptionen in einem Proceß erledigen konnte, oder nach alter Weiſe mittelſt eines beſondern Proceſſes. Ob das ſpätere römiſche Recht dieſer Rückſicht aber nicht auf Koſten anderer nicht minder gewichtiger Intereſſen einen ungebührlichen Einfluß vergönnt hat, das iſt eine Frage, auf die ich mir die Antwort für das dritte Syſtem vorbehalte. So ſchrumpfen alſo die ſcheinbaren Gebrechen des alten Pro-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/139>, abgerufen am 23.11.2024.