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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
cesses vom Standpunkt der damaligen Zeit fast auf Nichts zu-
sammen, und wenn einmal der Werth einer Einrichtung sich nach
dem Verhältniß ihrer Vortheile und Nachtheile bestimmt, so wird
das Urtheil über den Werth des altrömischen Processes -- nicht
seinen Kunstwerth (S. 120), sondern seinen praktischen
Werth für das römische Leben -- nicht zweifelhaft sein können.

Die genaue Sonderung der verschiedenen Seiten des Rechts-
verhältnisses, der Ansprüche und Gegenansprüche, die größtmög-
lichste Beschränkung und zugleich die schärfste Präcisirung der
Streitfrage, die Fixirung der richterlichen Aufmerksamkeit auf den
wesentlichen Punkt, bis zur Unmöglichkeit des Abirrens, die
Einfachheit, Raschheit und Sicherheit der Proceßmaschinerie --
das sind die Eigenschaften, die den praktischen Werth des altrömi-
schen Processes bestimmen und ihn für immer nicht bloß zu einem
höchst anziehenden Gegenstand historischer Untersuchung, sondern
zugleich zu einer überaus werthvollen Quelle der Belehrung stem-
peln. Aber freilich wenn irgendwo der Satz gegolten hat: jus ci-
vile vigilantibus scriptum est,
168) so war es im alten Proceß.
Zum ungefährlichen Spiel, zum bequemen Sich gehen lassen war
die Maschine nicht eingerichtet. So geringe Anforderungen sie an
den Richter stellte, dem die Frage zur Beantwortung überwiesen
war, so hohe an den Magistrat und die Partheien. Wenn sie sich
versahen, wenn die Parthei rechtzeitig eines Umstandes zu geden-
ken vergaß, der auf die Wahl der Klagformel von Einfluß hätte
werden können, oder wenn eine Fragstellung gewählt ward, die
dem Stande der Sache nicht adäquat war, kurz wenn der Proceß
bei der Instruction vor dem Magistrat, welcher den Schwerpunkt
des ganzen Verfahrens bildete, durch ungeschickte Hände in eine
verkehrte Bahn geleitet ward -- dann allerdings rollte er unauf-
haltsam fort, und das kleinste Versehen rächte sich durch den Ver-
lust der ganzen Sache. Aber das ist einmal ein Fehler, wenn
man ihn so nennen will, der von der Idee des Processes un-

168) L. 24 i. f. quae in fraud. (42. 8).

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
ceſſes vom Standpunkt der damaligen Zeit faſt auf Nichts zu-
ſammen, und wenn einmal der Werth einer Einrichtung ſich nach
dem Verhältniß ihrer Vortheile und Nachtheile beſtimmt, ſo wird
das Urtheil über den Werth des altrömiſchen Proceſſes — nicht
ſeinen Kunſtwerth (S. 120), ſondern ſeinen praktiſchen
Werth für das römiſche Leben — nicht zweifelhaft ſein können.

Die genaue Sonderung der verſchiedenen Seiten des Rechts-
verhältniſſes, der Anſprüche und Gegenanſprüche, die größtmög-
lichſte Beſchränkung und zugleich die ſchärfſte Präciſirung der
Streitfrage, die Fixirung der richterlichen Aufmerkſamkeit auf den
weſentlichen Punkt, bis zur Unmöglichkeit des Abirrens, die
Einfachheit, Raſchheit und Sicherheit der Proceßmaſchinerie —
das ſind die Eigenſchaften, die den praktiſchen Werth des altrömi-
ſchen Proceſſes beſtimmen und ihn für immer nicht bloß zu einem
höchſt anziehenden Gegenſtand hiſtoriſcher Unterſuchung, ſondern
zugleich zu einer überaus werthvollen Quelle der Belehrung ſtem-
peln. Aber freilich wenn irgendwo der Satz gegolten hat: jus ci-
vile vigilantibus scriptum est,
168) ſo war es im alten Proceß.
Zum ungefährlichen Spiel, zum bequemen Sich gehen laſſen war
die Maſchine nicht eingerichtet. So geringe Anforderungen ſie an
den Richter ſtellte, dem die Frage zur Beantwortung überwieſen
war, ſo hohe an den Magiſtrat und die Partheien. Wenn ſie ſich
verſahen, wenn die Parthei rechtzeitig eines Umſtandes zu geden-
ken vergaß, der auf die Wahl der Klagformel von Einfluß hätte
werden können, oder wenn eine Fragſtellung gewählt ward, die
dem Stande der Sache nicht adäquat war, kurz wenn der Proceß
bei der Inſtruction vor dem Magiſtrat, welcher den Schwerpunkt
des ganzen Verfahrens bildete, durch ungeſchickte Hände in eine
verkehrte Bahn geleitet ward — dann allerdings rollte er unauf-
haltſam fort, und das kleinſte Verſehen rächte ſich durch den Ver-
luſt der ganzen Sache. Aber das iſt einmal ein Fehler, wenn
man ihn ſo nennen will, der von der Idee des Proceſſes un-

168) L. 24 i. f. quae in fraud. (42. 8).
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[124/0140] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. ceſſes vom Standpunkt der damaligen Zeit faſt auf Nichts zu- ſammen, und wenn einmal der Werth einer Einrichtung ſich nach dem Verhältniß ihrer Vortheile und Nachtheile beſtimmt, ſo wird das Urtheil über den Werth des altrömiſchen Proceſſes — nicht ſeinen Kunſtwerth (S. 120), ſondern ſeinen praktiſchen Werth für das römiſche Leben — nicht zweifelhaft ſein können. Die genaue Sonderung der verſchiedenen Seiten des Rechts- verhältniſſes, der Anſprüche und Gegenanſprüche, die größtmög- lichſte Beſchränkung und zugleich die ſchärfſte Präciſirung der Streitfrage, die Fixirung der richterlichen Aufmerkſamkeit auf den weſentlichen Punkt, bis zur Unmöglichkeit des Abirrens, die Einfachheit, Raſchheit und Sicherheit der Proceßmaſchinerie — das ſind die Eigenſchaften, die den praktiſchen Werth des altrömi- ſchen Proceſſes beſtimmen und ihn für immer nicht bloß zu einem höchſt anziehenden Gegenſtand hiſtoriſcher Unterſuchung, ſondern zugleich zu einer überaus werthvollen Quelle der Belehrung ſtem- peln. Aber freilich wenn irgendwo der Satz gegolten hat: jus ci- vile vigilantibus scriptum est, 168) ſo war es im alten Proceß. Zum ungefährlichen Spiel, zum bequemen Sich gehen laſſen war die Maſchine nicht eingerichtet. So geringe Anforderungen ſie an den Richter ſtellte, dem die Frage zur Beantwortung überwieſen war, ſo hohe an den Magiſtrat und die Partheien. Wenn ſie ſich verſahen, wenn die Parthei rechtzeitig eines Umſtandes zu geden- ken vergaß, der auf die Wahl der Klagformel von Einfluß hätte werden können, oder wenn eine Fragſtellung gewählt ward, die dem Stande der Sache nicht adäquat war, kurz wenn der Proceß bei der Inſtruction vor dem Magiſtrat, welcher den Schwerpunkt des ganzen Verfahrens bildete, durch ungeſchickte Hände in eine verkehrte Bahn geleitet ward — dann allerdings rollte er unauf- haltſam fort, und das kleinſte Verſehen rächte ſich durch den Ver- luſt der ganzen Sache. Aber das iſt einmal ein Fehler, wenn man ihn ſo nennen will, der von der Idee des Proceſſes un- 168) L. 24 i. f. quae in fraud. (42. 8).

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/140>, abgerufen am 27.11.2024.