Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
nimmt", der Wechsel wird indossirt ohne Angabe des Indossatars
(in blanco) -- kurz dieser Gedanke der Erstreckung des Rechtsge-
schäfts auf unbestimmte Verhältnisse und Personen hat im spä-
tern römischen und im heutigen Recht eine sehr weite Ausdehnung
erhalten. Daß das ältere Recht ihm keinen Zutritt gewähren
konnte und gewährt hat, braucht nicht erst gesagt zu werden. 207)
Es war ein Gedanke, dem die Jurisprudenz ohne die größte Ge-
fahr für die Ordnung und Festigkeit des Rechts sich erst hingeben
durfte, als sie, im sichern Besitz der technischen Meisterschaft, der
engen Formen und strengen Regeln entrathen konnte, durch welche
die ältere sich die technische Beherrschung des Rechts hatte sichern
müssen. Daß jene völlig elastische, nach allen Seiten hin offene
Structur des Rechtsgeschäfts eine große Gefahr in sich schließt,
wer sähe das nicht? Von der höchsten Freiheit bis zur Unge-
bundenheit und Anarchie ist auch hier nur ein Schritt, und es
war ein richtiges Gefühl, welches die alte Jurisprudenz leitete,
hier, wie so oft, der größern Sicherheit des Rechts vor der
größern Bequemlichkeit den Vorzug zu geben.

Oder war jene etwa zu theuer erkauft? Waren die knappen
Formen, in die man das Rechtsgeschäft wies, vielleicht zu eng,
verkümmerten sie dem Verkehr das nöthige Maß der freien Be-
wegung? Die folgende Betrachtung soll uns Antwort auf diese
Frage geben.

Kein Verkehr, und wäre er noch so niedrig entwickelt, vermag
sich ausschließlich auf die Verhältnisse in der Gegenwart zu be-
schränken; schon die einfachsten Bedürfnisse treiben den Menschen
in die Zukunft, und das Recht muß ihm die Formen gewäh-
ren, um sich die Zukunft zu sichern. Wer könnte, wenn er für den
Bau eines Hauses einer Servitut bedarf, warten, bis das Haus
gebaut ist, oder wenn er über ein halbes Jahr eine Wohnung

207) Beispiele der entgegengesetzten Behandlungsweise: L. 20 pr. de
test. tut. (26. 2), L. 6 §. 1 quod cuj. (3. 4) cf. L. 3 de proc. (3. 3)
. Daß
der cognitor ursprünglich unbestimmt und generell hätte ernannt werden kön-
nen (Keller Civilpr. §. 52), halte ich für völlig unmöglich.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
nimmt“, der Wechſel wird indoſſirt ohne Angabe des Indoſſatars
(in blanco) — kurz dieſer Gedanke der Erſtreckung des Rechtsge-
ſchäfts auf unbeſtimmte Verhältniſſe und Perſonen hat im ſpä-
tern römiſchen und im heutigen Recht eine ſehr weite Ausdehnung
erhalten. Daß das ältere Recht ihm keinen Zutritt gewähren
konnte und gewährt hat, braucht nicht erſt geſagt zu werden. 207)
Es war ein Gedanke, dem die Jurisprudenz ohne die größte Ge-
fahr für die Ordnung und Feſtigkeit des Rechts ſich erſt hingeben
durfte, als ſie, im ſichern Beſitz der techniſchen Meiſterſchaft, der
engen Formen und ſtrengen Regeln entrathen konnte, durch welche
die ältere ſich die techniſche Beherrſchung des Rechts hatte ſichern
müſſen. Daß jene völlig elaſtiſche, nach allen Seiten hin offene
Structur des Rechtsgeſchäfts eine große Gefahr in ſich ſchließt,
wer ſähe das nicht? Von der höchſten Freiheit bis zur Unge-
bundenheit und Anarchie iſt auch hier nur ein Schritt, und es
war ein richtiges Gefühl, welches die alte Jurisprudenz leitete,
hier, wie ſo oft, der größern Sicherheit des Rechts vor der
größern Bequemlichkeit den Vorzug zu geben.

Oder war jene etwa zu theuer erkauft? Waren die knappen
Formen, in die man das Rechtsgeſchäft wies, vielleicht zu eng,
verkümmerten ſie dem Verkehr das nöthige Maß der freien Be-
wegung? Die folgende Betrachtung ſoll uns Antwort auf dieſe
Frage geben.

Kein Verkehr, und wäre er noch ſo niedrig entwickelt, vermag
ſich ausſchließlich auf die Verhältniſſe in der Gegenwart zu be-
ſchränken; ſchon die einfachſten Bedürfniſſe treiben den Menſchen
in die Zukunft, und das Recht muß ihm die Formen gewäh-
ren, um ſich die Zukunft zu ſichern. Wer könnte, wenn er für den
Bau eines Hauſes einer Servitut bedarf, warten, bis das Haus
gebaut iſt, oder wenn er über ein halbes Jahr eine Wohnung

207) Beiſpiele der entgegengeſetzten Behandlungsweiſe: L. 20 pr. de
test. tut. (26. 2), L. 6 §. 1 quod cuj. (3. 4) cf. L. 3 de proc. (3. 3)
. Daß
der cognitor urſprünglich unbeſtimmt und generell hätte ernannt werden kön-
nen (Keller Civilpr. §. 52), halte ich für völlig unmöglich.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <p><pb facs="#f0172" n="156"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die Technik. <hi rendition="#aq">A.</hi> Die Analytik.</fw><lb/>
nimmt&#x201C;, der Wech&#x017F;el wird indo&#x017F;&#x017F;irt ohne Angabe des Indo&#x017F;&#x017F;atars<lb/>
(<hi rendition="#aq">in blanco</hi>) &#x2014; kurz die&#x017F;er Gedanke der Er&#x017F;treckung des Rechtsge-<lb/>
&#x017F;chäfts auf unbe&#x017F;timmte Verhältni&#x017F;&#x017F;e und Per&#x017F;onen hat im &#x017F;pä-<lb/>
tern römi&#x017F;chen und im heutigen Recht eine &#x017F;ehr weite Ausdehnung<lb/>
erhalten. Daß das ältere Recht ihm keinen Zutritt gewähren<lb/>
konnte und gewährt hat, braucht nicht er&#x017F;t ge&#x017F;agt zu werden. <note place="foot" n="207)">Bei&#x017F;piele der entgegenge&#x017F;etzten Behandlungswei&#x017F;e: <hi rendition="#aq">L. 20 pr. de<lb/>
test. tut. (26. 2), L. 6 §. 1 quod cuj. (3. 4) cf. L. 3 de proc. (3. 3)</hi>. Daß<lb/>
der <hi rendition="#aq">cognitor</hi> ur&#x017F;prünglich unbe&#x017F;timmt und generell hätte ernannt werden kön-<lb/>
nen (<hi rendition="#g">Keller</hi> Civilpr. §. 52), halte ich für völlig unmöglich.</note><lb/>
Es war ein Gedanke, dem die Jurisprudenz ohne die größte Ge-<lb/>
fahr für die Ordnung und Fe&#x017F;tigkeit des Rechts &#x017F;ich er&#x017F;t hingeben<lb/>
durfte, als &#x017F;ie, im &#x017F;ichern Be&#x017F;itz der techni&#x017F;chen Mei&#x017F;ter&#x017F;chaft, der<lb/>
engen Formen und &#x017F;trengen Regeln entrathen konnte, durch welche<lb/>
die ältere &#x017F;ich die techni&#x017F;che Beherr&#x017F;chung des Rechts hatte &#x017F;ichern<lb/>&#x017F;&#x017F;en. Daß jene völlig ela&#x017F;ti&#x017F;che, nach allen Seiten hin offene<lb/>
Structur des Rechtsge&#x017F;chäfts eine große Gefahr in &#x017F;ich &#x017F;chließt,<lb/>
wer &#x017F;ähe das nicht? Von der höch&#x017F;ten Freiheit bis zur Unge-<lb/>
bundenheit und Anarchie i&#x017F;t auch hier nur <hi rendition="#g">ein</hi> Schritt, und es<lb/>
war ein richtiges Gefühl, welches die alte Jurisprudenz leitete,<lb/>
hier, wie &#x017F;o oft, der größern <hi rendition="#g">Sicherheit</hi> des Rechts vor der<lb/>
größern <hi rendition="#g">Bequemlichkeit</hi> den Vorzug zu geben.</p><lb/>
                        <p>Oder war jene etwa zu theuer erkauft? Waren die knappen<lb/>
Formen, in die man das Rechtsge&#x017F;chäft wies, vielleicht zu eng,<lb/>
verkümmerten &#x017F;ie dem Verkehr das nöthige Maß der freien Be-<lb/>
wegung? Die folgende Betrachtung &#x017F;oll uns Antwort auf die&#x017F;e<lb/>
Frage geben.</p><lb/>
                        <p>Kein Verkehr, und wäre er noch &#x017F;o niedrig entwickelt, vermag<lb/>
&#x017F;ich aus&#x017F;chließlich auf die Verhältni&#x017F;&#x017F;e in der <hi rendition="#g">Gegenwart</hi> zu be-<lb/>
&#x017F;chränken; &#x017F;chon die einfach&#x017F;ten Bedürfni&#x017F;&#x017F;e treiben den Men&#x017F;chen<lb/>
in die <hi rendition="#g">Zukunft</hi>, und das Recht muß ihm die Formen gewäh-<lb/>
ren, um &#x017F;ich die Zukunft zu &#x017F;ichern. Wer könnte, wenn er für den<lb/>
Bau eines Hau&#x017F;es einer Servitut bedarf, warten, bis das Haus<lb/>
gebaut i&#x017F;t, oder wenn er über ein halbes Jahr eine Wohnung<lb/></p>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[156/0172] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. nimmt“, der Wechſel wird indoſſirt ohne Angabe des Indoſſatars (in blanco) — kurz dieſer Gedanke der Erſtreckung des Rechtsge- ſchäfts auf unbeſtimmte Verhältniſſe und Perſonen hat im ſpä- tern römiſchen und im heutigen Recht eine ſehr weite Ausdehnung erhalten. Daß das ältere Recht ihm keinen Zutritt gewähren konnte und gewährt hat, braucht nicht erſt geſagt zu werden. 207) Es war ein Gedanke, dem die Jurisprudenz ohne die größte Ge- fahr für die Ordnung und Feſtigkeit des Rechts ſich erſt hingeben durfte, als ſie, im ſichern Beſitz der techniſchen Meiſterſchaft, der engen Formen und ſtrengen Regeln entrathen konnte, durch welche die ältere ſich die techniſche Beherrſchung des Rechts hatte ſichern müſſen. Daß jene völlig elaſtiſche, nach allen Seiten hin offene Structur des Rechtsgeſchäfts eine große Gefahr in ſich ſchließt, wer ſähe das nicht? Von der höchſten Freiheit bis zur Unge- bundenheit und Anarchie iſt auch hier nur ein Schritt, und es war ein richtiges Gefühl, welches die alte Jurisprudenz leitete, hier, wie ſo oft, der größern Sicherheit des Rechts vor der größern Bequemlichkeit den Vorzug zu geben. Oder war jene etwa zu theuer erkauft? Waren die knappen Formen, in die man das Rechtsgeſchäft wies, vielleicht zu eng, verkümmerten ſie dem Verkehr das nöthige Maß der freien Be- wegung? Die folgende Betrachtung ſoll uns Antwort auf dieſe Frage geben. Kein Verkehr, und wäre er noch ſo niedrig entwickelt, vermag ſich ausſchließlich auf die Verhältniſſe in der Gegenwart zu be- ſchränken; ſchon die einfachſten Bedürfniſſe treiben den Menſchen in die Zukunft, und das Recht muß ihm die Formen gewäh- ren, um ſich die Zukunft zu ſichern. Wer könnte, wenn er für den Bau eines Hauſes einer Servitut bedarf, warten, bis das Haus gebaut iſt, oder wenn er über ein halbes Jahr eine Wohnung 207) Beiſpiele der entgegengeſetzten Behandlungsweiſe: L. 20 pr. de test. tut. (26. 2), L. 6 §. 1 quod cuj. (3. 4) cf. L. 3 de proc. (3. 3). Daß der cognitor urſprünglich unbeſtimmt und generell hätte ernannt werden kön- nen (Keller Civilpr. §. 52), halte ich für völlig unmöglich.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/172
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/172>, abgerufen am 21.05.2024.