Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

C. Die abstracte Analyse. Einfachheit der Rechtskörper. §. 54.
sich ihm als gestaltende Faktoren Gedanken anderer, materieller
Art hinzu, mit denen er sich in die Herrschaft zu theilen hat.
Während daher bei jenen beiden der Gesichtspunkt der Analyse
ausreichte, um das specifisch juristische Interesse derselben, soweit
es nicht schon früher berührt ward (§. 44--47), vollständig zu
erschöpfen, so daß wir also fortan in diesem System uns mit
ihnen nicht mehr werden zu beschäftigen haben, ist dies für die
Begriffe des materiellen Rechts keineswegs der Fall, wir wer-
den vielmehr genöthigt sein, auf sie später noch ausführlich zu-
rückzukommen (Theorie der Rechte).

Aber hat denn jener Gedanke überhaupt einen Antheil an
der Bildung der Begriffe? Was hat die Analyse gemein mit
dem Eigenthum, der väterlichen Gewalt, dem Erbrecht? Was
hätte die Jurisprudenz an diesen Begriffen, die sie ihrer Sub-
stanz nach fertig aus den Händen des Lebens überkam, noch
zersetzen können? Was ihr erübrigte, war Nichts, als die rea-
len Thatsachen und Verhältnisse der Sitte und des Verkehrs in
die Form des Begriffs zu bringen. In gewissem Sinn kann
man zwar auch diese Thätigkeit eine analytische und jeden Be-
griff ein Zersetzungsproduct nennen, insofern nämlich die Bil-
dung der Begriffe darauf beruht, daß der denkende Geist aus
der flüssigen Gedankensubstanz einen Stoff nach dem andern
herausgreift, ihn abgränzt und abscheidet und zur Selbständigkeit
des individuellen logischen Seins erhebt. Aber in diesem Sinn
ist die Analyse, die hier zur Frage steht, nicht gemeint, in die-
sem Sinn ist sie eine allgemeine logische, keine specifisch-juristi-
sche Operation.

Der so eben aufgeworfene Zweifel wurzelt in einer An-
schauung, die, ohne je wissenschaftlich begründet, in Frage ge-
stellt oder überhaupt nur einmal bestimmt ausgesprochen zu sein,
doch als stillschweigendes Axiom allgemein verbreitet ist. Ich
fasse sie in die Formel zusammen: die Rechtsbegriffe sind keine
Kunst-, sondern Naturproducte. Bei der Theorie der Rechte
werde ich Gelegenheit finden, näher auf sie einzugehen und sie

C. Die abſtracte Analyſe. Einfachheit der Rechtskörper. §. 54.
ſich ihm als geſtaltende Faktoren Gedanken anderer, materieller
Art hinzu, mit denen er ſich in die Herrſchaft zu theilen hat.
Während daher bei jenen beiden der Geſichtspunkt der Analyſe
ausreichte, um das ſpecifiſch juriſtiſche Intereſſe derſelben, ſoweit
es nicht ſchon früher berührt ward (§. 44—47), vollſtändig zu
erſchöpfen, ſo daß wir alſo fortan in dieſem Syſtem uns mit
ihnen nicht mehr werden zu beſchäftigen haben, iſt dies für die
Begriffe des materiellen Rechts keineswegs der Fall, wir wer-
den vielmehr genöthigt ſein, auf ſie ſpäter noch ausführlich zu-
rückzukommen (Theorie der Rechte).

Aber hat denn jener Gedanke überhaupt einen Antheil an
der Bildung der Begriffe? Was hat die Analyſe gemein mit
dem Eigenthum, der väterlichen Gewalt, dem Erbrecht? Was
hätte die Jurisprudenz an dieſen Begriffen, die ſie ihrer Sub-
ſtanz nach fertig aus den Händen des Lebens überkam, noch
zerſetzen können? Was ihr erübrigte, war Nichts, als die rea-
len Thatſachen und Verhältniſſe der Sitte und des Verkehrs in
die Form des Begriffs zu bringen. In gewiſſem Sinn kann
man zwar auch dieſe Thätigkeit eine analytiſche und jeden Be-
griff ein Zerſetzungsproduct nennen, inſofern nämlich die Bil-
dung der Begriffe darauf beruht, daß der denkende Geiſt aus
der flüſſigen Gedankenſubſtanz einen Stoff nach dem andern
herausgreift, ihn abgränzt und abſcheidet und zur Selbſtändigkeit
des individuellen logiſchen Seins erhebt. Aber in dieſem Sinn
iſt die Analyſe, die hier zur Frage ſteht, nicht gemeint, in die-
ſem Sinn iſt ſie eine allgemeine logiſche, keine ſpecifiſch-juriſti-
ſche Operation.

Der ſo eben aufgeworfene Zweifel wurzelt in einer An-
ſchauung, die, ohne je wiſſenſchaftlich begründet, in Frage ge-
ſtellt oder überhaupt nur einmal beſtimmt ausgeſprochen zu ſein,
doch als ſtillſchweigendes Axiom allgemein verbreitet iſt. Ich
faſſe ſie in die Formel zuſammen: die Rechtsbegriffe ſind keine
Kunſt-, ſondern Naturproducte. Bei der Theorie der Rechte
werde ich Gelegenheit finden, näher auf ſie einzugehen und ſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0187" n="171"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">C.</hi> Die ab&#x017F;tracte Analy&#x017F;e. Einfachheit der Rechtskörper. §. 54.</fw><lb/>
&#x017F;ich ihm als ge&#x017F;taltende Faktoren Gedanken anderer, materieller<lb/>
Art hinzu, mit denen er &#x017F;ich in die Herr&#x017F;chaft zu theilen hat.<lb/>
Während daher bei jenen beiden der Ge&#x017F;ichtspunkt der Analy&#x017F;e<lb/>
ausreichte, um das &#x017F;pecifi&#x017F;ch juri&#x017F;ti&#x017F;che Intere&#x017F;&#x017F;e der&#x017F;elben, &#x017F;oweit<lb/>
es nicht &#x017F;chon früher berührt ward (§. 44&#x2014;47), voll&#x017F;tändig zu<lb/>
er&#x017F;chöpfen, &#x017F;o daß wir al&#x017F;o fortan in <hi rendition="#g">die&#x017F;em</hi> Sy&#x017F;tem uns mit<lb/>
ihnen nicht mehr werden zu be&#x017F;chäftigen haben, i&#x017F;t dies für die<lb/>
Begriffe des materiellen Rechts keineswegs der Fall, wir wer-<lb/>
den vielmehr genöthigt &#x017F;ein, auf &#x017F;ie &#x017F;päter noch ausführlich zu-<lb/>
rückzukommen (Theorie der Rechte).</p><lb/>
                      <p>Aber hat denn jener Gedanke überhaupt einen Antheil an<lb/>
der Bildung der Begriffe? Was hat die Analy&#x017F;e gemein mit<lb/>
dem Eigenthum, der väterlichen Gewalt, dem Erbrecht? Was<lb/>
hätte die Jurisprudenz an die&#x017F;en Begriffen, die &#x017F;ie ihrer Sub-<lb/>
&#x017F;tanz nach fertig aus den Händen des Lebens überkam, noch<lb/>
zer&#x017F;etzen können? Was ihr erübrigte, war Nichts, als die rea-<lb/>
len That&#x017F;achen und Verhältni&#x017F;&#x017F;e der Sitte und des Verkehrs in<lb/>
die Form des Begriffs zu bringen. In gewi&#x017F;&#x017F;em Sinn kann<lb/>
man zwar auch die&#x017F;e Thätigkeit eine analyti&#x017F;che und jeden Be-<lb/>
griff ein Zer&#x017F;etzungsproduct nennen, in&#x017F;ofern nämlich die Bil-<lb/>
dung der Begriffe darauf beruht, daß der denkende Gei&#x017F;t aus<lb/>
der flü&#x017F;&#x017F;igen Gedanken&#x017F;ub&#x017F;tanz <hi rendition="#g">einen</hi> Stoff nach dem andern<lb/>
herausgreift, ihn abgränzt und ab&#x017F;cheidet und zur Selb&#x017F;tändigkeit<lb/>
des individuellen logi&#x017F;chen Seins erhebt. Aber in die&#x017F;em Sinn<lb/>
i&#x017F;t die Analy&#x017F;e, die hier zur Frage &#x017F;teht, nicht gemeint, in die-<lb/>
&#x017F;em Sinn i&#x017F;t &#x017F;ie eine allgemeine logi&#x017F;che, keine &#x017F;pecifi&#x017F;ch-juri&#x017F;ti-<lb/>
&#x017F;che Operation.</p><lb/>
                      <p>Der &#x017F;o eben aufgeworfene Zweifel wurzelt in einer An-<lb/>
&#x017F;chauung, die, ohne je wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich begründet, in Frage ge-<lb/>
&#x017F;tellt oder überhaupt nur einmal be&#x017F;timmt ausge&#x017F;prochen zu &#x017F;ein,<lb/>
doch als &#x017F;till&#x017F;chweigendes Axiom allgemein verbreitet i&#x017F;t. Ich<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ie in die Formel zu&#x017F;ammen: die Rechtsbegriffe &#x017F;ind keine<lb/><hi rendition="#g">Kun&#x017F;t</hi>-, &#x017F;ondern <hi rendition="#g">Natur</hi>producte. Bei der Theorie der Rechte<lb/>
werde ich Gelegenheit finden, näher auf &#x017F;ie einzugehen und &#x017F;ie<lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171/0187] C. Die abſtracte Analyſe. Einfachheit der Rechtskörper. §. 54. ſich ihm als geſtaltende Faktoren Gedanken anderer, materieller Art hinzu, mit denen er ſich in die Herrſchaft zu theilen hat. Während daher bei jenen beiden der Geſichtspunkt der Analyſe ausreichte, um das ſpecifiſch juriſtiſche Intereſſe derſelben, ſoweit es nicht ſchon früher berührt ward (§. 44—47), vollſtändig zu erſchöpfen, ſo daß wir alſo fortan in dieſem Syſtem uns mit ihnen nicht mehr werden zu beſchäftigen haben, iſt dies für die Begriffe des materiellen Rechts keineswegs der Fall, wir wer- den vielmehr genöthigt ſein, auf ſie ſpäter noch ausführlich zu- rückzukommen (Theorie der Rechte). Aber hat denn jener Gedanke überhaupt einen Antheil an der Bildung der Begriffe? Was hat die Analyſe gemein mit dem Eigenthum, der väterlichen Gewalt, dem Erbrecht? Was hätte die Jurisprudenz an dieſen Begriffen, die ſie ihrer Sub- ſtanz nach fertig aus den Händen des Lebens überkam, noch zerſetzen können? Was ihr erübrigte, war Nichts, als die rea- len Thatſachen und Verhältniſſe der Sitte und des Verkehrs in die Form des Begriffs zu bringen. In gewiſſem Sinn kann man zwar auch dieſe Thätigkeit eine analytiſche und jeden Be- griff ein Zerſetzungsproduct nennen, inſofern nämlich die Bil- dung der Begriffe darauf beruht, daß der denkende Geiſt aus der flüſſigen Gedankenſubſtanz einen Stoff nach dem andern herausgreift, ihn abgränzt und abſcheidet und zur Selbſtändigkeit des individuellen logiſchen Seins erhebt. Aber in dieſem Sinn iſt die Analyſe, die hier zur Frage ſteht, nicht gemeint, in die- ſem Sinn iſt ſie eine allgemeine logiſche, keine ſpecifiſch-juriſti- ſche Operation. Der ſo eben aufgeworfene Zweifel wurzelt in einer An- ſchauung, die, ohne je wiſſenſchaftlich begründet, in Frage ge- ſtellt oder überhaupt nur einmal beſtimmt ausgeſprochen zu ſein, doch als ſtillſchweigendes Axiom allgemein verbreitet iſt. Ich faſſe ſie in die Formel zuſammen: die Rechtsbegriffe ſind keine Kunſt-, ſondern Naturproducte. Bei der Theorie der Rechte werde ich Gelegenheit finden, näher auf ſie einzugehen und ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/187
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/187>, abgerufen am 21.05.2024.