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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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C. Die abstracte Analyse. Einfachheit der Rechtskörper. §. 54.
denz den Begriff der Einfachheit? Die Antwort lautet: nicht
darnach, ob ein Verhältniß des Lebens seinem Zweck, seiner Be-
stimmung nach ein für sich abgeschlossenes Ganze bildete (öko-
nomische
Einheit), sondern darnach, ob dasselbe mit Hülfe der
von ihr angenommenen juristischen Grundbegriffe sich noch wei-
ter zerlegen ließ. Der Maßstab war also kein absoluter, son-
dern ein relativer, ein historischer, aber gleichwohl ein ganz be-
stimmter. Zusammengesetzt war ein Verhältniß, das einen Be-
griff, der als solcher im Leben vorkommen konnte,
als Element seiner Substanz in sich schloß. Darum war z. B.
der Kaufcontract ein zusammengesetzter Körper, denn die ein-
fachste Form, in der die Obligation im Leben vorkömmt, ist die
einseitige Obligation, der Kaufcontract aber erzeugt zwei
Obligationen, er läßt sich also auflösen in zwei einseitige. Soll
unsere Behauptung richtig sein, so muß mithin das ältere Recht
keine zweiseitigen Obligationen gekannt haben. Die einfachste
Form des Rechtsverhältnisses, wie es z. B. im Eigenthum zu
Tage tritt, ist die des einseitigen Rechts, d. h. des Rechts ohne
alle Verpflichtung. Soll unser obiger Satz aufrecht bestehen,
so darf die ältere Jurisprudenz keine mit Pflichten gemischte
Rechte geduldet haben, so dürfen die verschiedenen Rechte nie
zur Einheit eines dritten selbständigen Rechts verschmolzen wor-
den sein.

Untersuchen wir, ob unser Grundsatz die Probe besteht. Ich
wende mich zu dem Zweck zuerst einer Erscheinung zu, die meines
Erachtens mehr als irgend eine andere den Leser sofort auf die
Höhe der Aufgabe hebt und ihm das innerste Geheimniß der
Analytik des alten Rechts erschließt.


Der Gedanke der Verpflichtung beschränkt seine Herr-
schaft keineswegs auf dasjenige Gebiet, in dem er seinen eigent-
lichen Sitz hat und seine feste Ausprägung und Verkörpe-
rung gefunden hat: das Obligationenrecht; als unsichtbares,
individuell nicht ausgeprägtes, unkörperliches Element durch-

C. Die abſtracte Analyſe. Einfachheit der Rechtskörper. §. 54.
denz den Begriff der Einfachheit? Die Antwort lautet: nicht
darnach, ob ein Verhältniß des Lebens ſeinem Zweck, ſeiner Be-
ſtimmung nach ein für ſich abgeſchloſſenes Ganze bildete (öko-
nomiſche
Einheit), ſondern darnach, ob daſſelbe mit Hülfe der
von ihr angenommenen juriſtiſchen Grundbegriffe ſich noch wei-
ter zerlegen ließ. Der Maßſtab war alſo kein abſoluter, ſon-
dern ein relativer, ein hiſtoriſcher, aber gleichwohl ein ganz be-
ſtimmter. Zuſammengeſetzt war ein Verhältniß, das einen Be-
griff, der als ſolcher im Leben vorkommen konnte,
als Element ſeiner Subſtanz in ſich ſchloß. Darum war z. B.
der Kaufcontract ein zuſammengeſetzter Körper, denn die ein-
fachſte Form, in der die Obligation im Leben vorkömmt, iſt die
einſeitige Obligation, der Kaufcontract aber erzeugt zwei
Obligationen, er läßt ſich alſo auflöſen in zwei einſeitige. Soll
unſere Behauptung richtig ſein, ſo muß mithin das ältere Recht
keine zweiſeitigen Obligationen gekannt haben. Die einfachſte
Form des Rechtsverhältniſſes, wie es z. B. im Eigenthum zu
Tage tritt, iſt die des einſeitigen Rechts, d. h. des Rechts ohne
alle Verpflichtung. Soll unſer obiger Satz aufrecht beſtehen,
ſo darf die ältere Jurisprudenz keine mit Pflichten gemiſchte
Rechte geduldet haben, ſo dürfen die verſchiedenen Rechte nie
zur Einheit eines dritten ſelbſtändigen Rechts verſchmolzen wor-
den ſein.

Unterſuchen wir, ob unſer Grundſatz die Probe beſteht. Ich
wende mich zu dem Zweck zuerſt einer Erſcheinung zu, die meines
Erachtens mehr als irgend eine andere den Leſer ſofort auf die
Höhe der Aufgabe hebt und ihm das innerſte Geheimniß der
Analytik des alten Rechts erſchließt.


Der Gedanke der Verpflichtung beſchränkt ſeine Herr-
ſchaft keineswegs auf dasjenige Gebiet, in dem er ſeinen eigent-
lichen Sitz hat und ſeine feſte Ausprägung und Verkörpe-
rung gefunden hat: das Obligationenrecht; als unſichtbares,
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[175/0191] C. Die abſtracte Analyſe. Einfachheit der Rechtskörper. §. 54. denz den Begriff der Einfachheit? Die Antwort lautet: nicht darnach, ob ein Verhältniß des Lebens ſeinem Zweck, ſeiner Be- ſtimmung nach ein für ſich abgeſchloſſenes Ganze bildete (öko- nomiſche Einheit), ſondern darnach, ob daſſelbe mit Hülfe der von ihr angenommenen juriſtiſchen Grundbegriffe ſich noch wei- ter zerlegen ließ. Der Maßſtab war alſo kein abſoluter, ſon- dern ein relativer, ein hiſtoriſcher, aber gleichwohl ein ganz be- ſtimmter. Zuſammengeſetzt war ein Verhältniß, das einen Be- griff, der als ſolcher im Leben vorkommen konnte, als Element ſeiner Subſtanz in ſich ſchloß. Darum war z. B. der Kaufcontract ein zuſammengeſetzter Körper, denn die ein- fachſte Form, in der die Obligation im Leben vorkömmt, iſt die einſeitige Obligation, der Kaufcontract aber erzeugt zwei Obligationen, er läßt ſich alſo auflöſen in zwei einſeitige. Soll unſere Behauptung richtig ſein, ſo muß mithin das ältere Recht keine zweiſeitigen Obligationen gekannt haben. Die einfachſte Form des Rechtsverhältniſſes, wie es z. B. im Eigenthum zu Tage tritt, iſt die des einſeitigen Rechts, d. h. des Rechts ohne alle Verpflichtung. Soll unſer obiger Satz aufrecht beſtehen, ſo darf die ältere Jurisprudenz keine mit Pflichten gemiſchte Rechte geduldet haben, ſo dürfen die verſchiedenen Rechte nie zur Einheit eines dritten ſelbſtändigen Rechts verſchmolzen wor- den ſein. Unterſuchen wir, ob unſer Grundſatz die Probe beſteht. Ich wende mich zu dem Zweck zuerſt einer Erſcheinung zu, die meines Erachtens mehr als irgend eine andere den Leſer ſofort auf die Höhe der Aufgabe hebt und ihm das innerſte Geheimniß der Analytik des alten Rechts erſchließt. Der Gedanke der Verpflichtung beſchränkt ſeine Herr- ſchaft keineswegs auf dasjenige Gebiet, in dem er ſeinen eigent- lichen Sitz hat und ſeine feſte Ausprägung und Verkörpe- rung gefunden hat: das Obligationenrecht; als unſichtbares, individuell nicht ausgeprägtes, unkörperliches Element durch-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/191>, abgerufen am 21.05.2024.