Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.C. Die abstracte Analyse. Vereinfachung des Thatbestandes. §. 55. ursprünglichen Charakter gänzlich eingebüßt hat, zu ihnen ge-sellte sich im neuern Recht oder richtiger es löste sie völlig ab eine andere, über die wir aber allerdings wenig wissen. Aus der Constitution, in der Justinian die actio receptitia für den ge- wöhnlichen Verkehr außer Anwendung setzte und sie passiv auf Banquiers und Kaufleute beschränkte, geht so viel mit aller Sicherheit hervor, daß die Idee der abstracten Obligation in ihr zur vollsten Verwirklichung gelangt war, denn das, was er ihr zum Vorwurf macht, daß nämlich der Schuldner, trotz der Ein- wendungen und Gegenansprüche, die ihm zu Gebote standen, vorläufig habe zahlen und, um zu seinem Recht zu kommen, den Weg der Klage habe einschlagen müssen,268) gerade das enthält das charakteristische Merkmal der abstracten Obligation. Das Aufkommen dieser jüngsten Form liefert einen abermaligen Be- weis für die Unentbehrlichkeit der abstracten Obligation. Sei- ner bisherigen Formen theils schlechthin, theils durch gänzliche Abschwächung derselben beraubt, schuf der Gedanke der abstracten Obligation sich eine neue, bis Justinian auch diese dem allge- meinen Gebrauch verschloß und damit den modernen Verkehr nöthigte, im Wechsel abermals eine andere an die Stelle zu setzen. Welcher Art jene Form war, ob bloß mündlich oder auch schriftlich,269) und ob nicht auch sie vielleicht die Valutaclausel enthielt, wie man aus dem Namen der Klage: actio recepti- tia entnehmen möchte,270) darüber wollen wir uns gern aller 268) Die entscheidenden Worte der L. 2 Cod. de const. pec. (4. 18) sind bereits S. 119 in der Note mitgetheilt. Das einzige Zeugniß außer dieser Constitution hat uns Theophilus IV. 6 §. 8 erhalten. 269) Theophilus l. c.: trapezitou antiphonesantos (constituente) L. 2 §. 2 Cod. cit. indefense (ohne Vertheidigung d. h. mit Aufgebung aller Einreden, schlechthin, abstract) constituerint. 270) Nach Analogie der Dos receptitia. Recipere kömmt bei nicht-
juristischen Schriftstellern theils allein (in se, ad se oder recipere schlecht- hin), theils in Verbindung mit promitto, polliceor, dico, spondeo gar nicht selten für Uebernahme einer Verpflichtung vor (vorzugsweise einer fremden, so auch in L. 8 §. 1 ad SC. Vell. 16. 1, jedoch auch für originäre Verpflich- C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55. urſprünglichen Charakter gänzlich eingebüßt hat, zu ihnen ge-ſellte ſich im neuern Recht oder richtiger es löſte ſie völlig ab eine andere, über die wir aber allerdings wenig wiſſen. Aus der Conſtitution, in der Juſtinian die actio receptitia für den ge- wöhnlichen Verkehr außer Anwendung ſetzte und ſie paſſiv auf Banquiers und Kaufleute beſchränkte, geht ſo viel mit aller Sicherheit hervor, daß die Idee der abſtracten Obligation in ihr zur vollſten Verwirklichung gelangt war, denn das, was er ihr zum Vorwurf macht, daß nämlich der Schuldner, trotz der Ein- wendungen und Gegenanſprüche, die ihm zu Gebote ſtanden, vorläufig habe zahlen und, um zu ſeinem Recht zu kommen, den Weg der Klage habe einſchlagen müſſen,268) gerade das enthält das charakteriſtiſche Merkmal der abſtracten Obligation. Das Aufkommen dieſer jüngſten Form liefert einen abermaligen Be- weis für die Unentbehrlichkeit der abſtracten Obligation. Sei- ner bisherigen Formen theils ſchlechthin, theils durch gänzliche Abſchwächung derſelben beraubt, ſchuf der Gedanke der abſtracten Obligation ſich eine neue, bis Juſtinian auch dieſe dem allge- meinen Gebrauch verſchloß und damit den modernen Verkehr nöthigte, im Wechſel abermals eine andere an die Stelle zu ſetzen. Welcher Art jene Form war, ob bloß mündlich oder auch ſchriftlich,269) und ob nicht auch ſie vielleicht die Valutaclauſel enthielt, wie man aus dem Namen der Klage: actio recepti- tia entnehmen möchte,270) darüber wollen wir uns gern aller 268) Die entſcheidenden Worte der L. 2 Cod. de const. pec. (4. 18) ſind bereits S. 119 in der Note mitgetheilt. Das einzige Zeugniß außer dieſer Conſtitution hat uns Theophilus IV. 6 §. 8 erhalten. 269) Theophilus l. c.: τϱαπεζίτου ἀντιφωνήσαντος (constituente) L. 2 §. 2 Cod. cit. indefense (ohne Vertheidigung d. h. mit Aufgebung aller Einreden, ſchlechthin, abſtract) constituerint. 270) Nach Analogie der Dos receptitia. Recipere kömmt bei nicht-
juriſtiſchen Schriftſtellern theils allein (in se, ad se oder recipere ſchlecht- hin), theils in Verbindung mit promitto, polliceor, dico, spondeo gar nicht ſelten für Uebernahme einer Verpflichtung vor (vorzugsweiſe einer fremden, ſo auch in L. 8 §. 1 ad SC. Vell. 16. 1, jedoch auch für originäre Verpflich- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <div n="8"> <p><pb facs="#f0223" n="207"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">C.</hi> Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55.</fw><lb/> urſprünglichen Charakter gänzlich eingebüßt hat, zu ihnen ge-<lb/> ſellte ſich im neuern Recht oder richtiger es löſte ſie völlig ab eine<lb/> andere, über die wir aber allerdings wenig wiſſen. Aus der<lb/> Conſtitution, in der Juſtinian die <hi rendition="#aq">actio receptitia</hi> für den ge-<lb/> wöhnlichen Verkehr außer Anwendung ſetzte und ſie paſſiv auf<lb/> Banquiers und Kaufleute beſchränkte, geht ſo viel mit aller<lb/> Sicherheit hervor, daß die Idee der abſtracten Obligation in ihr<lb/> zur vollſten Verwirklichung gelangt war, denn das, was er ihr<lb/> zum Vorwurf macht, daß nämlich der Schuldner, trotz der Ein-<lb/> wendungen und Gegenanſprüche, die ihm zu Gebote ſtanden,<lb/> vorläufig habe zahlen und, um zu ſeinem Recht zu kommen, den<lb/> Weg der Klage habe einſchlagen müſſen,<note place="foot" n="268)">Die entſcheidenden Worte der <hi rendition="#aq">L. 2 Cod. de const. pec.</hi> (4. 18)<lb/> ſind bereits S. 119 in der Note mitgetheilt. Das einzige Zeugniß außer<lb/> dieſer Conſtitution hat uns <hi rendition="#aq">Theophilus IV.</hi> 6 §. 8 erhalten.</note> gerade das enthält<lb/> das charakteriſtiſche Merkmal der abſtracten Obligation. Das<lb/> Aufkommen dieſer jüngſten Form liefert einen abermaligen Be-<lb/> weis für die Unentbehrlichkeit der abſtracten Obligation. Sei-<lb/> ner bisherigen Formen theils ſchlechthin, theils durch gänzliche<lb/> Abſchwächung derſelben beraubt, ſchuf der Gedanke der abſtracten<lb/> Obligation ſich eine neue, bis Juſtinian auch dieſe dem allge-<lb/> meinen Gebrauch verſchloß und damit den modernen Verkehr<lb/> nöthigte, im Wechſel abermals eine andere an die Stelle zu<lb/> ſetzen. Welcher Art jene Form war, ob bloß mündlich oder auch<lb/> ſchriftlich,<note place="foot" n="269)"><hi rendition="#aq">Theophilus l. c.: τϱαπεζίτου ἀντιφωνήσαντος (constituente)<lb/> L. 2 §. 2 Cod. cit. <hi rendition="#g">indefense</hi></hi> (ohne Vertheidigung d. h. mit Aufgebung<lb/> aller Einreden, ſchlechthin, abſtract) <hi rendition="#aq">constituerint.</hi></note> und ob nicht auch ſie vielleicht die Valutaclauſel<lb/> enthielt, wie man aus dem Namen der Klage: <hi rendition="#aq">actio <hi rendition="#g">recepti-<lb/> tia</hi></hi> entnehmen möchte,<note xml:id="seg2pn_17_1" next="#seg2pn_17_2" place="foot" n="270)">Nach Analogie der <hi rendition="#aq">Dos <hi rendition="#g">receptitia</hi>. Recipere</hi> kömmt bei nicht-<lb/> juriſtiſchen Schriftſtellern theils allein (<hi rendition="#aq">in se, ad se</hi> oder <hi rendition="#aq">recipere</hi> ſchlecht-<lb/> hin), theils in Verbindung mit <hi rendition="#aq">promitto, polliceor, dico, spondeo</hi> gar nicht<lb/> ſelten für Uebernahme einer Verpflichtung vor (vorzugsweiſe einer fremden,<lb/> ſo auch in <hi rendition="#aq">L. 8 §. 1 ad SC. Vell.</hi> 16. 1, jedoch auch für originäre Verpflich-</note> darüber wollen wir uns gern aller<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [207/0223]
C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55.
urſprünglichen Charakter gänzlich eingebüßt hat, zu ihnen ge-
ſellte ſich im neuern Recht oder richtiger es löſte ſie völlig ab eine
andere, über die wir aber allerdings wenig wiſſen. Aus der
Conſtitution, in der Juſtinian die actio receptitia für den ge-
wöhnlichen Verkehr außer Anwendung ſetzte und ſie paſſiv auf
Banquiers und Kaufleute beſchränkte, geht ſo viel mit aller
Sicherheit hervor, daß die Idee der abſtracten Obligation in ihr
zur vollſten Verwirklichung gelangt war, denn das, was er ihr
zum Vorwurf macht, daß nämlich der Schuldner, trotz der Ein-
wendungen und Gegenanſprüche, die ihm zu Gebote ſtanden,
vorläufig habe zahlen und, um zu ſeinem Recht zu kommen, den
Weg der Klage habe einſchlagen müſſen, 268) gerade das enthält
das charakteriſtiſche Merkmal der abſtracten Obligation. Das
Aufkommen dieſer jüngſten Form liefert einen abermaligen Be-
weis für die Unentbehrlichkeit der abſtracten Obligation. Sei-
ner bisherigen Formen theils ſchlechthin, theils durch gänzliche
Abſchwächung derſelben beraubt, ſchuf der Gedanke der abſtracten
Obligation ſich eine neue, bis Juſtinian auch dieſe dem allge-
meinen Gebrauch verſchloß und damit den modernen Verkehr
nöthigte, im Wechſel abermals eine andere an die Stelle zu
ſetzen. Welcher Art jene Form war, ob bloß mündlich oder auch
ſchriftlich, 269) und ob nicht auch ſie vielleicht die Valutaclauſel
enthielt, wie man aus dem Namen der Klage: actio recepti-
tia entnehmen möchte, 270) darüber wollen wir uns gern aller
268) Die entſcheidenden Worte der L. 2 Cod. de const. pec. (4. 18)
ſind bereits S. 119 in der Note mitgetheilt. Das einzige Zeugniß außer
dieſer Conſtitution hat uns Theophilus IV. 6 §. 8 erhalten.
269) Theophilus l. c.: τϱαπεζίτου ἀντιφωνήσαντος (constituente)
L. 2 §. 2 Cod. cit. indefense (ohne Vertheidigung d. h. mit Aufgebung
aller Einreden, ſchlechthin, abſtract) constituerint.
270) Nach Analogie der Dos receptitia. Recipere kömmt bei nicht-
juriſtiſchen Schriftſtellern theils allein (in se, ad se oder recipere ſchlecht-
hin), theils in Verbindung mit promitto, polliceor, dico, spondeo gar nicht
ſelten für Uebernahme einer Verpflichtung vor (vorzugsweiſe einer fremden,
ſo auch in L. 8 §. 1 ad SC. Vell. 16. 1, jedoch auch für originäre Verpflich-
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