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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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C. Die abstracte Analyse. Vereinfachung des Thatbestandes. §. 55.
formen 302) erlassen sein -- so lange der Senat nicht die Aufhe-
bung desselben verfügt hat, ist es für Jedermann verbindlich.
Die Aufhebung erfolgte in derselben Weise, wie die der fehler-
haften Wahl des Magistrats, d. h. das Gesetz ward nicht für
nichtig erklärt, sondern es ward aufgehoben,303) m. a. W.
dieser Akt hatte keine rückwirkende Kraft, sondern er wirkte erst
von jetzt an, alle Verfügungen, Maßregeln, Urtheile u. s. w.,
die auf Grund des Gesetzes getroffen und gesprochen waren,
blieben demnach gültig; der Schuldige ward zur Verantwortung
gezogen.

Von besondrem Interesse ist die Frage von der Gültigkeit
der im materiellen Sinn verfassungswidrigen Gesetze d. h.
derjenigen, durch welche ein Fundamentalgrundsatz der römischen
Verfassung sei es schlechthin aufgehoben, sei es bloß im einzel-
nen Fall verletzt worden war. Dürfte man der Auctorität des
Cicero trauen, der aber gerade für die vorliegende Frage ein
mehr als bedenklicher Gewährsmann ist (s. u.), so würde ein
solches Gesetz gar keine Kraft gehabt haben.304) Wie sehr eine
solche Gestaltung des Verhältnisses, welche jeden Bürger zum
Richter über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze machte, mit
dem ganzen bisher geschilderten System in Widerspruch gestan-
den, wie sehr sie alle die Gefahren heraufbeschworen haben
würde, denen das alte Staatsrecht im übrigen in so planmä-
ßiger und umsichtiger Weise zu begegnen bemüht war -- dar-
über würde jedes Wort ein verlorenes sein. Aber andererseits

interrogabat, quae ita lata essent, rectene lata essent. Illi vitio lata
esse dicebant.
302) Lex Caecilia Didia über die promulgatio trinaum nundinaum. Cic.
de domo XVI. 41 Decrevit senatus, M. Drusi legibus, quae contra
legem Caeciliam et Didiam latae essent, populum non teneri.
303) Cic. de leg. II. 12, 31: legem, si non jure rogata est, tol-
lere
.
Was "tollere" involvirt, wird jeder Jurist wissen. S. auch die
vorige Note: non teneri (d. h. von jetzt an) und vitio lata, Note 301.
304) Cic. pro Caec. 33. de republ. III. 22.

C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55.
formen 302) erlaſſen ſein — ſo lange der Senat nicht die Aufhe-
bung deſſelben verfügt hat, iſt es für Jedermann verbindlich.
Die Aufhebung erfolgte in derſelben Weiſe, wie die der fehler-
haften Wahl des Magiſtrats, d. h. das Geſetz ward nicht für
nichtig erklärt, ſondern es ward aufgehoben,303) m. a. W.
dieſer Akt hatte keine rückwirkende Kraft, ſondern er wirkte erſt
von jetzt an, alle Verfügungen, Maßregeln, Urtheile u. ſ. w.,
die auf Grund des Geſetzes getroffen und geſprochen waren,
blieben demnach gültig; der Schuldige ward zur Verantwortung
gezogen.

Von beſondrem Intereſſe iſt die Frage von der Gültigkeit
der im materiellen Sinn verfaſſungswidrigen Geſetze d. h.
derjenigen, durch welche ein Fundamentalgrundſatz der römiſchen
Verfaſſung ſei es ſchlechthin aufgehoben, ſei es bloß im einzel-
nen Fall verletzt worden war. Dürfte man der Auctorität des
Cicero trauen, der aber gerade für die vorliegende Frage ein
mehr als bedenklicher Gewährsmann iſt (ſ. u.), ſo würde ein
ſolches Geſetz gar keine Kraft gehabt haben.304) Wie ſehr eine
ſolche Geſtaltung des Verhältniſſes, welche jeden Bürger zum
Richter über die Verfaſſungsmäßigkeit der Geſetze machte, mit
dem ganzen bisher geſchilderten Syſtem in Widerſpruch geſtan-
den, wie ſehr ſie alle die Gefahren heraufbeſchworen haben
würde, denen das alte Staatsrecht im übrigen in ſo planmä-
ßiger und umſichtiger Weiſe zu begegnen bemüht war — dar-
über würde jedes Wort ein verlorenes ſein. Aber andererſeits

interrogabat, quae ita lata essent, rectene lata essent. Illi vitio lata
esse dicebant.
302) Lex Caecilia Didia über die promulgatio trinûm nundinûm. Cic.
de domo XVI. 41 Decrevit senatus, M. Drusi legibus, quae contra
legem Caeciliam et Didiam latae essent, populum non teneri.
303) Cic. de leg. II. 12, 31: legem, si non jure rogata est, tol-
lere
.
Was „tollere“ involvirt, wird jeder Juriſt wiſſen. S. auch die
vorige Note: non teneri (d. h. von jetzt an) und vitio lata, Note 301.
304) Cic. pro Caec. 33. de republ. III. 22.
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[223/0239] C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55. formen 302) erlaſſen ſein — ſo lange der Senat nicht die Aufhe- bung deſſelben verfügt hat, iſt es für Jedermann verbindlich. Die Aufhebung erfolgte in derſelben Weiſe, wie die der fehler- haften Wahl des Magiſtrats, d. h. das Geſetz ward nicht für nichtig erklärt, ſondern es ward aufgehoben, 303) m. a. W. dieſer Akt hatte keine rückwirkende Kraft, ſondern er wirkte erſt von jetzt an, alle Verfügungen, Maßregeln, Urtheile u. ſ. w., die auf Grund des Geſetzes getroffen und geſprochen waren, blieben demnach gültig; der Schuldige ward zur Verantwortung gezogen. Von beſondrem Intereſſe iſt die Frage von der Gültigkeit der im materiellen Sinn verfaſſungswidrigen Geſetze d. h. derjenigen, durch welche ein Fundamentalgrundſatz der römiſchen Verfaſſung ſei es ſchlechthin aufgehoben, ſei es bloß im einzel- nen Fall verletzt worden war. Dürfte man der Auctorität des Cicero trauen, der aber gerade für die vorliegende Frage ein mehr als bedenklicher Gewährsmann iſt (ſ. u.), ſo würde ein ſolches Geſetz gar keine Kraft gehabt haben. 304) Wie ſehr eine ſolche Geſtaltung des Verhältniſſes, welche jeden Bürger zum Richter über die Verfaſſungsmäßigkeit der Geſetze machte, mit dem ganzen bisher geſchilderten Syſtem in Widerſpruch geſtan- den, wie ſehr ſie alle die Gefahren heraufbeſchworen haben würde, denen das alte Staatsrecht im übrigen in ſo planmä- ßiger und umſichtiger Weiſe zu begegnen bemüht war — dar- über würde jedes Wort ein verlorenes ſein. Aber andererſeits 301) 302) Lex Caecilia Didia über die promulgatio trinûm nundinûm. Cic. de domo XVI. 41 Decrevit senatus, M. Drusi legibus, quae contra legem Caeciliam et Didiam latae essent, populum non teneri. 303) Cic. de leg. II. 12, 31: legem, si non jure rogata est, tol- lere. Was „tollere“ involvirt, wird jeder Juriſt wiſſen. S. auch die vorige Note: non teneri (d. h. von jetzt an) und vitio lata, Note 301. 304) Cic. pro Caec. 33. de republ. III. 22. 301) interrogabat, quae ita lata essent, rectene lata essent. Illi vitio lata esse dicebant.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/239>, abgerufen am 12.11.2024.