Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.Zweites Buch. Erster Abschn. III. B. Die juristische Oekonomie. Prioritätsverhältniß so wenig, daß sie eher für das Gegentheilsprechen würden. Beide, die Scheingeschäfte wie die Fictionen, sind die einer gewissen Culturepoche eigenthümlichen Formen des Fortschritts. Niemand aber wird doch wohl darüber in Zweifel sein, daß das profane Recht dem Fortschritt395) un- gleich zugänglicher war, als das geistliche, daß also, wenn eins von beiden zuerst die Formen ausgebildet haben soll, in denen er Statt fand, dies nur das profane Recht gewesen sein kann. Es gilt von dieser Ansicht ganz dasselbe, was ich früher (Bd. 2 S. 675 fl.) von einer ganz verwandten gesagt habe, die den Ursprung der Legisactionen in dieselbe Region versetzt; beide begehen den Fehler, daß sie für eine Erscheinung von allgemein culturhistorischer Nothwendigkeit noch eine äußere, nur für Rom zutreffende Erklärung für nöthig halten. Die Scheingeschäfte und Fictionen sind ebensowenig wie die starren Formeln des Processes etwas dem römischen Rechte Eigenthümliches, sie wie- derholen sich auf einer gewissen Culturstufe überall, wofür ins- besondere die Geschichte des englischen Rechts die lehrreichsten Beispiele liefert; mit Zurücklegung derselben sterben sie mehr und mehr ab und verlieren sich endlich völlig. Diese Wahrnehmung muß die Ueberzeugung in uns her- 395) Dirksen, Versuche zur Kritik und Auslegung S. 7: "Nicht genug
daß sich die Formeln des geistlichen Rechts vor allen andern Formularen am längsten in ihrer alterthümlichen Gestalt und Bedeutung erhalten und am wenigsten eine spätere Beimischung von fremdartigem Stoff zu erdulden gehabt hatten; dieselben scheinen auch in ihrer ersten Begründung so wie bei fort- schreitender Entwicklung nicht eben dem Einfluß äußerer Umstände ausgesetzt gewesen zu sein." Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. B. Die juriſtiſche Oekonomie. Prioritätsverhältniß ſo wenig, daß ſie eher für das Gegentheilſprechen würden. Beide, die Scheingeſchäfte wie die Fictionen, ſind die einer gewiſſen Culturepoche eigenthümlichen Formen des Fortſchritts. Niemand aber wird doch wohl darüber in Zweifel ſein, daß das profane Recht dem Fortſchritt395) un- gleich zugänglicher war, als das geiſtliche, daß alſo, wenn eins von beiden zuerſt die Formen ausgebildet haben ſoll, in denen er Statt fand, dies nur das profane Recht geweſen ſein kann. Es gilt von dieſer Anſicht ganz daſſelbe, was ich früher (Bd. 2 S. 675 fl.) von einer ganz verwandten geſagt habe, die den Urſprung der Legisactionen in dieſelbe Region verſetzt; beide begehen den Fehler, daß ſie für eine Erſcheinung von allgemein culturhiſtoriſcher Nothwendigkeit noch eine äußere, nur für Rom zutreffende Erklärung für nöthig halten. Die Scheingeſchäfte und Fictionen ſind ebenſowenig wie die ſtarren Formeln des Proceſſes etwas dem römiſchen Rechte Eigenthümliches, ſie wie- derholen ſich auf einer gewiſſen Culturſtufe überall, wofür ins- beſondere die Geſchichte des engliſchen Rechts die lehrreichſten Beiſpiele liefert; mit Zurücklegung derſelben ſterben ſie mehr und mehr ab und verlieren ſich endlich völlig. Dieſe Wahrnehmung muß die Ueberzeugung in uns her- 395) Dirkſen, Verſuche zur Kritik und Auslegung S. 7: „Nicht genug
daß ſich die Formeln des geiſtlichen Rechts vor allen andern Formularen am längſten in ihrer alterthümlichen Geſtalt und Bedeutung erhalten und am wenigſten eine ſpätere Beimiſchung von fremdartigem Stoff zu erdulden gehabt hatten; dieſelben ſcheinen auch in ihrer erſten Begründung ſo wie bei fort- ſchreitender Entwicklung nicht eben dem Einfluß äußerer Umſtände ausgeſetzt geweſen zu ſein.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p><pb facs="#f0288" n="272"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchn. <hi rendition="#aq">III. B.</hi> Die juriſtiſche Oekonomie.</fw><lb/> Prioritätsverhältniß ſo wenig, daß ſie eher für das Gegentheil<lb/> ſprechen würden. Beide, die Scheingeſchäfte wie die Fictionen,<lb/> ſind die einer gewiſſen Culturepoche eigenthümlichen <hi rendition="#g">Formen<lb/> des Fortſchritts</hi>. Niemand aber wird doch wohl darüber in<lb/> Zweifel ſein, daß das profane Recht dem <hi rendition="#g">Fortſchritt</hi><note place="foot" n="395)"><hi rendition="#g">Dirkſen</hi>, Verſuche zur Kritik und Auslegung S. 7: „Nicht genug<lb/> daß ſich die Formeln des geiſtlichen Rechts vor allen andern Formularen am<lb/> längſten in ihrer alterthümlichen Geſtalt und Bedeutung erhalten und am<lb/> wenigſten eine ſpätere Beimiſchung von fremdartigem Stoff zu erdulden gehabt<lb/> hatten; dieſelben ſcheinen auch in ihrer erſten Begründung ſo wie bei fort-<lb/> ſchreitender Entwicklung nicht eben dem Einfluß äußerer Umſtände ausgeſetzt<lb/> geweſen zu ſein.“</note> un-<lb/> gleich zugänglicher war, als das geiſtliche, daß alſo, wenn eins<lb/> von beiden zuerſt die Formen ausgebildet haben ſoll, in denen<lb/> er Statt fand, dies nur das profane Recht geweſen ſein kann.<lb/> Es gilt von dieſer Anſicht ganz daſſelbe, was ich früher (Bd. 2<lb/> S. 675 fl.) von einer ganz verwandten geſagt habe, die den<lb/> Urſprung der Legisactionen in dieſelbe Region verſetzt; beide<lb/> begehen den Fehler, daß ſie für eine Erſcheinung von allgemein<lb/> culturhiſtoriſcher Nothwendigkeit noch eine äußere, nur für Rom<lb/> zutreffende Erklärung für nöthig halten. Die Scheingeſchäfte<lb/> und Fictionen ſind ebenſowenig wie die ſtarren Formeln des<lb/> Proceſſes etwas dem römiſchen Rechte Eigenthümliches, ſie wie-<lb/> derholen ſich auf einer gewiſſen Culturſtufe überall, wofür ins-<lb/> beſondere die Geſchichte des engliſchen Rechts die lehrreichſten<lb/> Beiſpiele liefert; mit Zurücklegung derſelben ſterben ſie mehr<lb/> und mehr ab und verlieren ſich endlich völlig.</p><lb/> <p>Dieſe Wahrnehmung muß die Ueberzeugung in uns her-<lb/> vorrufen, daß nicht die Frage nach dem <hi rendition="#g">Urſprung</hi>, der äußern<lb/> hiſtoriſchen Entſtehung, ſondern die nach dem <hi rendition="#g">Grunde</hi> der<lb/> Scheingeſchäfte die eigentlich entſcheidende iſt. Mögen immerhin<lb/> manche derſelben der Abſicht der Umgehung unbequemer Geſetze<lb/> ihren Urſprung verdanken, alſo aus urſprünglich ſimulirten Ge-<lb/> ſchäften des Lebens hervorgegangen ſein, die ſich erſt auf dem<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [272/0288]
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. B. Die juriſtiſche Oekonomie.
Prioritätsverhältniß ſo wenig, daß ſie eher für das Gegentheil
ſprechen würden. Beide, die Scheingeſchäfte wie die Fictionen,
ſind die einer gewiſſen Culturepoche eigenthümlichen Formen
des Fortſchritts. Niemand aber wird doch wohl darüber in
Zweifel ſein, daß das profane Recht dem Fortſchritt 395) un-
gleich zugänglicher war, als das geiſtliche, daß alſo, wenn eins
von beiden zuerſt die Formen ausgebildet haben ſoll, in denen
er Statt fand, dies nur das profane Recht geweſen ſein kann.
Es gilt von dieſer Anſicht ganz daſſelbe, was ich früher (Bd. 2
S. 675 fl.) von einer ganz verwandten geſagt habe, die den
Urſprung der Legisactionen in dieſelbe Region verſetzt; beide
begehen den Fehler, daß ſie für eine Erſcheinung von allgemein
culturhiſtoriſcher Nothwendigkeit noch eine äußere, nur für Rom
zutreffende Erklärung für nöthig halten. Die Scheingeſchäfte
und Fictionen ſind ebenſowenig wie die ſtarren Formeln des
Proceſſes etwas dem römiſchen Rechte Eigenthümliches, ſie wie-
derholen ſich auf einer gewiſſen Culturſtufe überall, wofür ins-
beſondere die Geſchichte des engliſchen Rechts die lehrreichſten
Beiſpiele liefert; mit Zurücklegung derſelben ſterben ſie mehr
und mehr ab und verlieren ſich endlich völlig.
Dieſe Wahrnehmung muß die Ueberzeugung in uns her-
vorrufen, daß nicht die Frage nach dem Urſprung, der äußern
hiſtoriſchen Entſtehung, ſondern die nach dem Grunde der
Scheingeſchäfte die eigentlich entſcheidende iſt. Mögen immerhin
manche derſelben der Abſicht der Umgehung unbequemer Geſetze
ihren Urſprung verdanken, alſo aus urſprünglich ſimulirten Ge-
ſchäften des Lebens hervorgegangen ſein, die ſich erſt auf dem
395) Dirkſen, Verſuche zur Kritik und Auslegung S. 7: „Nicht genug
daß ſich die Formeln des geiſtlichen Rechts vor allen andern Formularen am
längſten in ihrer alterthümlichen Geſtalt und Bedeutung erhalten und am
wenigſten eine ſpätere Beimiſchung von fremdartigem Stoff zu erdulden gehabt
hatten; dieſelben ſcheinen auch in ihrer erſten Begründung ſo wie bei fort-
ſchreitender Entwicklung nicht eben dem Einfluß äußerer Umſtände ausgeſetzt
geweſen zu ſein.“
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