Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.Die künstlichen Mittel. §. 58. langsamen Wege gewohnheitsrechtlicher Bildung zum Rangerechtlich anerkannter Geschäftsformen erhoben, andere sofort als solche von der Jurisprudenz ins Leben gerufen worden sein, darauf kömmt Nichts an. In beiden Fällen wirft sich gleichmäßig die Frage auf, was die Jurisprudenz zur Billigung oder Wahl so seltsamer Formen veranlassen konnte. Von dem von uns ge- wonnenen Standpunkt aus kann die Antwort auf diese Frage nicht zweifelhaft sein. Die Scheingeschäfte waren nur eins der vielen Mittel, welche die römischen Juristen anwandten, um neu auftauchende Bedürfnisse des Lebens mit den vorhandenen Mit- teln zu befriedigen. Der Vorwurf, den Cicero, der sich auch diesen bequemen Stoff, die Jurisprudenz vor dem großen Haufen herunterzusetzen, nicht entgehen ließ -- der Vorwurf also, den Cicero den Juristen macht: sie hätten mittelst der Scheingeschäfte das ältere Recht fraudulöser Weise umgangen,395 a) wird keiner ernstlichen Widerlegung bedürfen, zum Ueberfluß verweise ich auf das, was ich bereits Bd. 2 S. 492 dagegen bemerkt habe. Der einzige Punkt, der uns zu einem genaueren Eingehen Ich habe früher die "künstlichen Mittel" der juristischen 395 a) Cic. pro Murena 12. Dieser Vorwurf reiht sich dem Urtheil Cicero's über das Formelwesen, die Wortinterpretation (B. 2 Note 610 u. 612) und die Fictionen (s. u.) würdig an. Jhering, Geist d. röm. Rechts. III. 18
Die künſtlichen Mittel. §. 58. langſamen Wege gewohnheitsrechtlicher Bildung zum Rangerechtlich anerkannter Geſchäftsformen erhoben, andere ſofort als ſolche von der Jurisprudenz ins Leben gerufen worden ſein, darauf kömmt Nichts an. In beiden Fällen wirft ſich gleichmäßig die Frage auf, was die Jurisprudenz zur Billigung oder Wahl ſo ſeltſamer Formen veranlaſſen konnte. Von dem von uns ge- wonnenen Standpunkt aus kann die Antwort auf dieſe Frage nicht zweifelhaft ſein. Die Scheingeſchäfte waren nur eins der vielen Mittel, welche die römiſchen Juriſten anwandten, um neu auftauchende Bedürfniſſe des Lebens mit den vorhandenen Mit- teln zu befriedigen. Der Vorwurf, den Cicero, der ſich auch dieſen bequemen Stoff, die Jurisprudenz vor dem großen Haufen herunterzuſetzen, nicht entgehen ließ — der Vorwurf alſo, den Cicero den Juriſten macht: ſie hätten mittelſt der Scheingeſchäfte das ältere Recht fraudulöſer Weiſe umgangen,395 a) wird keiner ernſtlichen Widerlegung bedürfen, zum Ueberfluß verweiſe ich auf das, was ich bereits Bd. 2 S. 492 dagegen bemerkt habe. Der einzige Punkt, der uns zu einem genaueren Eingehen Ich habe früher die „künſtlichen Mittel“ der juriſtiſchen 395 a) Cic. pro Murena 12. Dieſer Vorwurf reiht ſich dem Urtheil Cicero’s über das Formelweſen, die Wortinterpretation (B. 2 Note 610 u. 612) und die Fictionen (ſ. u.) würdig an. Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. III. 18
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Die künſtlichen Mittel. §. 58.
langſamen Wege gewohnheitsrechtlicher Bildung zum Range
rechtlich anerkannter Geſchäftsformen erhoben, andere ſofort als
ſolche von der Jurisprudenz ins Leben gerufen worden ſein,
darauf kömmt Nichts an. In beiden Fällen wirft ſich gleichmäßig
die Frage auf, was die Jurisprudenz zur Billigung oder Wahl
ſo ſeltſamer Formen veranlaſſen konnte. Von dem von uns ge-
wonnenen Standpunkt aus kann die Antwort auf dieſe Frage
nicht zweifelhaft ſein. Die Scheingeſchäfte waren nur eins der
vielen Mittel, welche die römiſchen Juriſten anwandten, um neu
auftauchende Bedürfniſſe des Lebens mit den vorhandenen Mit-
teln zu befriedigen. Der Vorwurf, den Cicero, der ſich auch
dieſen bequemen Stoff, die Jurisprudenz vor dem großen Haufen
herunterzuſetzen, nicht entgehen ließ — der Vorwurf alſo, den
Cicero den Juriſten macht: ſie hätten mittelſt der Scheingeſchäfte
das ältere Recht fraudulöſer Weiſe umgangen, 395 a) wird keiner
ernſtlichen Widerlegung bedürfen, zum Ueberfluß verweiſe ich
auf das, was ich bereits Bd. 2 S. 492 dagegen bemerkt habe.
Der einzige Punkt, der uns zu einem genaueren Eingehen
Veranlaſſung bietet, iſt der praktiſche Mechanismus des Schein-
geſchäfts.
Ich habe früher die „künſtlichen Mittel“ der juriſtiſchen
Oekonomie als ſolche bezeichnet, bei denen dem Rechtsbegriff
Gewalt angethan, bei denen er in widernatürlicher Weiſe ge-
ſpannt werde. Bei dem Scheingeſchäft beſteht dieſe Spannung
darin, daß daſſelbe, um gewiſſe Wirkungen, auf die es abgeſehen
iſt, zu erzielen, ein anderes Geſchäft oder Verhältniß, in welchem
dieſelben als einzelne Momente des geſammten Inhalts, ſei es
als Zwecke, oder als bloße Folge und gar als Strafe ent-
halten ſind, in der Weiſe verwendet, daß es lediglich dieſe ein-
zelne Wirkung herausgreift, die übrigen fallen läßt. Das
395 a) Cic. pro Murena 12. Dieſer Vorwurf reiht ſich dem Urtheil Cicero’s
über das Formelweſen, die Wortinterpretation (B. 2 Note 610 u. 612) und
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