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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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A. Der Proceß. Die Vertheidigung in Form der Negation. §. 52.
so wäre es um jede freie Bewegung im Innern der Institute ge-
schehen gewesen -- die Erstarrung an der Oberfläche würde sich
auch auf die Tiefe erstreckt haben. Es bewährt sich darin wie-
derum so recht der Takt der alten Jurisprudenz, daß sie den
Rechtsbegriff in der Klage zwar fixirte, aber ohne ihn zu fes-
seln
(B. 2 S. 666 flg.).

Untersuchen wir den Spielraum, den die actio in jus con-
cepta
der Vertheidigung vergönnte.

Von vornherein hat die Meinung sehr viel für sich, daß der-
selbe ein sehr enger gewesen sei. Denn wenn der Beklagte ledig-
lich auf Negation angewiesen ist, so ist ja die Berufung auf
alle solche Gründe und Verhältnisse ausgeschlossen, welche nicht
direct eine Nichtexistenz des klägerischen Anspruchs involviren;
in dem Fall siegt der Eigenthümer gegen den Usufructuar, denn
die Berufung auf den Nießbrauch enthält keine Negation des
Eigenthums, der Erbe siegt gegen den Eigenthümer, denn der
Einwand des Eigenthums enthält keine Negation der Be-
hauptung, daß der Kläger Erbe sei und die Sache zur Masse
gehöre. Gegenüber diesem engen Spielraum der Vertheidigung
würde das Gebiet, das die exceptio ihr eröffnet hat, ein unver-
gleichlich weites sein. Hier kann der Beklagte, frei von jeglicher
Beschränkung, den Anspruch des Klägers in jeder gedenk-
baren Weise bekämpfen: er kann ihn in seiner abstracten juri-
stischen Existenz bestehen lassen und dennoch wegen der Mängel,
die ihm anhaften, sich seiner Ausübung widersetzen -- er kann dem
Anspruch einen Gegenanspruch gegenüber stellen und ihn damit
zurückschlagen, ja die verschiedenartigsten Rechte, wie z. B. Eigen-
thum und Obligation (exc. rei creditae et traditae) können in
dieser Form sich einander gegenüber gestellt werden.

Diese ganze Ansicht von der vermeintlichen Enge des ältern und
der Weite des neuern Vertheidigungssystems beruht jedoch auf
bloßem Schein. Freilich der Gründe, auf welche der Beklagte
hier seinen Antrag auf Befreiung stützen konnte, ist eine ungleich
größere Zahl geworden, als dort; Haussöhne, Frauenzimmer ge-

A. Der Proceß. Die Vertheidigung in Form der Negation. §. 52.
ſo wäre es um jede freie Bewegung im Innern der Inſtitute ge-
ſchehen geweſen — die Erſtarrung an der Oberfläche würde ſich
auch auf die Tiefe erſtreckt haben. Es bewährt ſich darin wie-
derum ſo recht der Takt der alten Jurisprudenz, daß ſie den
Rechtsbegriff in der Klage zwar fixirte, aber ohne ihn zu feſ-
ſeln
(B. 2 S. 666 flg.).

Unterſuchen wir den Spielraum, den die actio in jus con-
cepta
der Vertheidigung vergönnte.

Von vornherein hat die Meinung ſehr viel für ſich, daß der-
ſelbe ein ſehr enger geweſen ſei. Denn wenn der Beklagte ledig-
lich auf Negation angewieſen iſt, ſo iſt ja die Berufung auf
alle ſolche Gründe und Verhältniſſe ausgeſchloſſen, welche nicht
direct eine Nichtexiſtenz des klägeriſchen Anſpruchs involviren;
in dem Fall ſiegt der Eigenthümer gegen den Uſufructuar, denn
die Berufung auf den Nießbrauch enthält keine Negation des
Eigenthums, der Erbe ſiegt gegen den Eigenthümer, denn der
Einwand des Eigenthums enthält keine Negation der Be-
hauptung, daß der Kläger Erbe ſei und die Sache zur Maſſe
gehöre. Gegenüber dieſem engen Spielraum der Vertheidigung
würde das Gebiet, das die exceptio ihr eröffnet hat, ein unver-
gleichlich weites ſein. Hier kann der Beklagte, frei von jeglicher
Beſchränkung, den Anſpruch des Klägers in jeder gedenk-
baren Weiſe bekämpfen: er kann ihn in ſeiner abſtracten juri-
ſtiſchen Exiſtenz beſtehen laſſen und dennoch wegen der Mängel,
die ihm anhaften, ſich ſeiner Ausübung widerſetzen — er kann dem
Anſpruch einen Gegenanſpruch gegenüber ſtellen und ihn damit
zurückſchlagen, ja die verſchiedenartigſten Rechte, wie z. B. Eigen-
thum und Obligation (exc. rei creditae et traditae) können in
dieſer Form ſich einander gegenüber geſtellt werden.

Dieſe ganze Anſicht von der vermeintlichen Enge des ältern und
der Weite des neuern Vertheidigungsſyſtems beruht jedoch auf
bloßem Schein. Freilich der Gründe, auf welche der Beklagte
hier ſeinen Antrag auf Befreiung ſtützen konnte, iſt eine ungleich
größere Zahl geworden, als dort; Hausſöhne, Frauenzimmer ge-

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[61/0077] A. Der Proceß. Die Vertheidigung in Form der Negation. §. 52. ſo wäre es um jede freie Bewegung im Innern der Inſtitute ge- ſchehen geweſen — die Erſtarrung an der Oberfläche würde ſich auch auf die Tiefe erſtreckt haben. Es bewährt ſich darin wie- derum ſo recht der Takt der alten Jurisprudenz, daß ſie den Rechtsbegriff in der Klage zwar fixirte, aber ohne ihn zu feſ- ſeln (B. 2 S. 666 flg.). Unterſuchen wir den Spielraum, den die actio in jus con- cepta der Vertheidigung vergönnte. Von vornherein hat die Meinung ſehr viel für ſich, daß der- ſelbe ein ſehr enger geweſen ſei. Denn wenn der Beklagte ledig- lich auf Negation angewieſen iſt, ſo iſt ja die Berufung auf alle ſolche Gründe und Verhältniſſe ausgeſchloſſen, welche nicht direct eine Nichtexiſtenz des klägeriſchen Anſpruchs involviren; in dem Fall ſiegt der Eigenthümer gegen den Uſufructuar, denn die Berufung auf den Nießbrauch enthält keine Negation des Eigenthums, der Erbe ſiegt gegen den Eigenthümer, denn der Einwand des Eigenthums enthält keine Negation der Be- hauptung, daß der Kläger Erbe ſei und die Sache zur Maſſe gehöre. Gegenüber dieſem engen Spielraum der Vertheidigung würde das Gebiet, das die exceptio ihr eröffnet hat, ein unver- gleichlich weites ſein. Hier kann der Beklagte, frei von jeglicher Beſchränkung, den Anſpruch des Klägers in jeder gedenk- baren Weiſe bekämpfen: er kann ihn in ſeiner abſtracten juri- ſtiſchen Exiſtenz beſtehen laſſen und dennoch wegen der Mängel, die ihm anhaften, ſich ſeiner Ausübung widerſetzen — er kann dem Anſpruch einen Gegenanſpruch gegenüber ſtellen und ihn damit zurückſchlagen, ja die verſchiedenartigſten Rechte, wie z. B. Eigen- thum und Obligation (exc. rei creditae et traditae) können in dieſer Form ſich einander gegenüber geſtellt werden. Dieſe ganze Anſicht von der vermeintlichen Enge des ältern und der Weite des neuern Vertheidigungsſyſtems beruht jedoch auf bloßem Schein. Freilich der Gründe, auf welche der Beklagte hier ſeinen Antrag auf Befreiung ſtützen konnte, iſt eine ungleich größere Zahl geworden, als dort; Hausſöhne, Frauenzimmer ge-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/77>, abgerufen am 24.11.2024.