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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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schlossen hat? Hat er beschlossen, daß ich meinen Lauf hier
in der Straße endigen soll, werd' ich armer Dummkopf von
Menschen! das wohl vermeiden können? und gar wenn ich
mich todtfallen soll, wie werd' ich mich hüten können? Ge-
setzt, ich bleib vom Dach, kann ich nicht heut oder Morgen da
in der Straße einen Karren Holz losbinden wollen, drauf
steigen, straucheln und den Hals abstürzen? Margarethe!
laß mich in Ruh; ich werde so ganz grade fortgehen, wie
ich bis dahin gegangen bin; wo mich dann mein Stündchen
überrascht, da werd ichs willkommen heißen!"

Margarethe und Mariechen sagten noch ein und das
andere, aber er achtete nicht darauf, sondern redete mit Hein-
richen
von allerhand, die Dachdeckerei betreffenden Sachen;
daher sie sich zufrieden gaben, und sich das Ding aus dem
Sinne schlugen.

Des andern Morgens standen sie frühe auf und der alte
Stilling fing an, während daß er ein Morgenlied sang,
das alte Stroh loszubinden und abzuwerfen, womit er denn
diesen Tag auch hübsch fertig wurde; so daß sie des folgen-
den Tages schon anfingen, das Dach mit neuem Stroh zu be-
legen; mit Einem Wort, das Dach ward fertig, ohne die
mindeste Gefahr oder Schreck dabei gehabt zu haben; ausser
daß es noch einmal bestiegen werden mußte, um starke und
frische Rasen oben über den First zu legen. Doch damit eilte der
alte Stilling so sehr nicht; es gingen wohl noch acht Tage
über, eh' es ihm einfiel, dieß letzte Stück Arbeit zu verrichten.

Des folgenden Mittwochs stand Eberhard ungewöhn-
lich früh auf, ging im Hause umher, von einer Kammer zur
andern, als wenn er was suchte. Seine Leute verwunderten
sich, fragten ihn, was er suche? Nichts, sagte er. Ich weiß
nicht, ich bin so wohl, doch hab ich keine Ruhe, ich kann
nirgend still seyn, als wenn Etwas in mir wäre, das mich
triebe, auch spür ich so eine Bangigkeit, die ich nicht kenne.
Margarethe rieth ihm, er sollte sich anziehen und mit
Heinrichen nacher Lichthausen gehen, seinen Sohn Jo-
hann
zu besuchen. Er war damit zufrieden; doch wollte er
zuerst die Rasen oben auf den Hausfirst legen, und dann des

ſchloſſen hat? Hat er beſchloſſen, daß ich meinen Lauf hier
in der Straße endigen ſoll, werd’ ich armer Dummkopf von
Menſchen! das wohl vermeiden koͤnnen? und gar wenn ich
mich todtfallen ſoll, wie werd’ ich mich huͤten koͤnnen? Ge-
ſetzt, ich bleib vom Dach, kann ich nicht heut oder Morgen da
in der Straße einen Karren Holz losbinden wollen, drauf
ſteigen, ſtraucheln und den Hals abſtuͤrzen? Margarethe!
laß mich in Ruh; ich werde ſo ganz grade fortgehen, wie
ich bis dahin gegangen bin; wo mich dann mein Stuͤndchen
uͤberraſcht, da werd ichs willkommen heißen!“

Margarethe und Mariechen ſagten noch ein und das
andere, aber er achtete nicht darauf, ſondern redete mit Hein-
richen
von allerhand, die Dachdeckerei betreffenden Sachen;
daher ſie ſich zufrieden gaben, und ſich das Ding aus dem
Sinne ſchlugen.

Des andern Morgens ſtanden ſie fruͤhe auf und der alte
Stilling fing an, waͤhrend daß er ein Morgenlied ſang,
das alte Stroh loszubinden und abzuwerfen, womit er denn
dieſen Tag auch huͤbſch fertig wurde; ſo daß ſie des folgen-
den Tages ſchon anfingen, das Dach mit neuem Stroh zu be-
legen; mit Einem Wort, das Dach ward fertig, ohne die
mindeſte Gefahr oder Schreck dabei gehabt zu haben; auſſer
daß es noch einmal beſtiegen werden mußte, um ſtarke und
friſche Raſen oben uͤber den Firſt zu legen. Doch damit eilte der
alte Stilling ſo ſehr nicht; es gingen wohl noch acht Tage
uͤber, eh’ es ihm einfiel, dieß letzte Stuͤck Arbeit zu verrichten.

Des folgenden Mittwochs ſtand Eberhard ungewoͤhn-
lich fruͤh auf, ging im Hauſe umher, von einer Kammer zur
andern, als wenn er was ſuchte. Seine Leute verwunderten
ſich, fragten ihn, was er ſuche? Nichts, ſagte er. Ich weiß
nicht, ich bin ſo wohl, doch hab ich keine Ruhe, ich kann
nirgend ſtill ſeyn, als wenn Etwas in mir waͤre, das mich
triebe, auch ſpuͤr ich ſo eine Bangigkeit, die ich nicht kenne.
Margarethe rieth ihm, er ſollte ſich anziehen und mit
Heinrichen nacher Lichthauſen gehen, ſeinen Sohn Jo-
hann
zu beſuchen. Er war damit zufrieden; doch wollte er
zuerſt die Raſen oben auf den Hausfirſt legen, und dann des

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/100>, abgerufen am 24.11.2024.