bitterlich. Vater Stilling holte alle Minuten tief Odem, wie Einer, der tief seufzet, und von einem Seufzer zum an- dern war der Odem ganz still; an seinem ganzen Leibe regte und bewegte sich nichts als sein Unterkiefer, der sich bei jedem Seufzer ein wenig vorwärts schob.
Margarethe Stilling hatte bis dahin bei all ihrer Traurigkeit noch nicht geweint; sobald sie aber Cathrinen rufen hörte, stand sie auf, ging aus Bett, und sah ihrem ster- benden Manne ins Gesicht; nun fielen einige Thränen die Wan- gen herunter; sie dehnte sich aus, denn sie war vom Alter ein wenig gebückt, richtete ihre Augen auf und reckte die Hände gen Himmel, und betete mit dem feurigsten Herzen; sie holte jedesmal aus tiefster Brust Odem, und den verzehrte sie in einem brünstigen Seufzer. Sie sprach die Worte plattdeutsch nach ihrer Gewohnheit aus, aber sie waren alle voll Geist und Leben. Der Inhalt ihrer Worte war, daß ihr Gott und Er- löser ihres lieben Mannes Seele gnädig aufnehmen, und zu sich in die ewige Freude nehmen möge. Wie sie anfing zu beten, sahen alle ihre Kinder auf, erstaunten, sanken am Bett auf die Kniee und beteten in der Stille mit. Nun kam der letzte Herzensstoß; der ganze Körper zog sich; er stieß einen Schrei aus; nun war er verschieden. Margarethe hörte auf zu beten, faßte dem entseelten Manne seine rechte Hand an, schüttelte sie und sagte: "Leb wohl, Eberhard! in dem schö- nen Himmel sehen wir uns bald wieder!" So wie sie das sagte, sank sie nieder auf ihre Knie; alle ihre Kinder fielen um sie herum. Nun weinte auch Margarethe die bittersten Thrä- nen, und klagte sehr.
Die Nachbarn kamen indessen, um den Entseelten anzuklei- den. Die Kinder standen auf, und die Mutter holte das Todtenkleid. Bis den folgenden Montag lag er auf der Bahre; da führte man ihn nach Florenburg, um ihn zu begraben.
Herr Pastor Stollbein ist aus dieser Geschichte als ein störrischer, wunderlicher Mann bekannt, allein ausser dieser Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins Grab gesenkt wurde, weinte er helle Thränen; und auf der Kanzel waren unter beständigem Weinen seine Worte: "Es ist
bitterlich. Vater Stilling holte alle Minuten tief Odem, wie Einer, der tief ſeufzet, und von einem Seufzer zum an- dern war der Odem ganz ſtill; an ſeinem ganzen Leibe regte und bewegte ſich nichts als ſein Unterkiefer, der ſich bei jedem Seufzer ein wenig vorwaͤrts ſchob.
Margarethe Stilling hatte bis dahin bei all ihrer Traurigkeit noch nicht geweint; ſobald ſie aber Cathrinen rufen hoͤrte, ſtand ſie auf, ging aus Bett, und ſah ihrem ſter- benden Manne ins Geſicht; nun fielen einige Thraͤnen die Wan- gen herunter; ſie dehnte ſich aus, denn ſie war vom Alter ein wenig gebuͤckt, richtete ihre Augen auf und reckte die Haͤnde gen Himmel, und betete mit dem feurigſten Herzen; ſie holte jedesmal aus tiefſter Bruſt Odem, und den verzehrte ſie in einem bruͤnſtigen Seufzer. Sie ſprach die Worte plattdeutſch nach ihrer Gewohnheit aus, aber ſie waren alle voll Geiſt und Leben. Der Inhalt ihrer Worte war, daß ihr Gott und Er- loͤſer ihres lieben Mannes Seele gnaͤdig aufnehmen, und zu ſich in die ewige Freude nehmen moͤge. Wie ſie anfing zu beten, ſahen alle ihre Kinder auf, erſtaunten, ſanken am Bett auf die Kniee und beteten in der Stille mit. Nun kam der letzte Herzensſtoß; der ganze Koͤrper zog ſich; er ſtieß einen Schrei aus; nun war er verſchieden. Margarethe hoͤrte auf zu beten, faßte dem entſeelten Manne ſeine rechte Hand an, ſchuͤttelte ſie und ſagte: „Leb wohl, Eberhard! in dem ſchoͤ- nen Himmel ſehen wir uns bald wieder!“ So wie ſie das ſagte, ſank ſie nieder auf ihre Knie; alle ihre Kinder fielen um ſie herum. Nun weinte auch Margarethe die bitterſten Thraͤ- nen, und klagte ſehr.
Die Nachbarn kamen indeſſen, um den Entſeelten anzuklei- den. Die Kinder ſtanden auf, und die Mutter holte das Todtenkleid. Bis den folgenden Montag lag er auf der Bahre; da fuͤhrte man ihn nach Florenburg, um ihn zu begraben.
Herr Paſtor Stollbein iſt aus dieſer Geſchichte als ein ſtoͤrriſcher, wunderlicher Mann bekannt, allein auſſer dieſer Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins Grab geſenkt wurde, weinte er helle Thraͤnen; und auf der Kanzel waren unter beſtaͤndigem Weinen ſeine Worte: „Es iſt
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bitterlich. Vater Stilling holte alle Minuten tief Odem,
wie Einer, der tief ſeufzet, und von einem Seufzer zum an-
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und bewegte ſich nichts als ſein Unterkiefer, der ſich bei jedem
Seufzer ein wenig vorwaͤrts ſchob.
Margarethe Stilling hatte bis dahin bei all ihrer
Traurigkeit noch nicht geweint; ſobald ſie aber Cathrinen
rufen hoͤrte, ſtand ſie auf, ging aus Bett, und ſah ihrem ſter-
benden Manne ins Geſicht; nun fielen einige Thraͤnen die Wan-
gen herunter; ſie dehnte ſich aus, denn ſie war vom Alter
ein wenig gebuͤckt, richtete ihre Augen auf und reckte die Haͤnde
gen Himmel, und betete mit dem feurigſten Herzen; ſie holte
jedesmal aus tiefſter Bruſt Odem, und den verzehrte ſie in
einem bruͤnſtigen Seufzer. Sie ſprach die Worte plattdeutſch
nach ihrer Gewohnheit aus, aber ſie waren alle voll Geiſt und
Leben. Der Inhalt ihrer Worte war, daß ihr Gott und Er-
loͤſer ihres lieben Mannes Seele gnaͤdig aufnehmen, und zu
ſich in die ewige Freude nehmen moͤge. Wie ſie anfing zu
beten, ſahen alle ihre Kinder auf, erſtaunten, ſanken am Bett
auf die Kniee und beteten in der Stille mit. Nun kam der
letzte Herzensſtoß; der ganze Koͤrper zog ſich; er ſtieß einen
Schrei aus; nun war er verſchieden. Margarethe hoͤrte
auf zu beten, faßte dem entſeelten Manne ſeine rechte Hand
an, ſchuͤttelte ſie und ſagte: „Leb wohl, Eberhard! in dem ſchoͤ-
nen Himmel ſehen wir uns bald wieder!“ So wie ſie das ſagte,
ſank ſie nieder auf ihre Knie; alle ihre Kinder fielen um ſie
herum. Nun weinte auch Margarethe die bitterſten Thraͤ-
nen, und klagte ſehr.
Die Nachbarn kamen indeſſen, um den Entſeelten anzuklei-
den. Die Kinder ſtanden auf, und die Mutter holte das
Todtenkleid. Bis den folgenden Montag lag er auf der Bahre;
da fuͤhrte man ihn nach Florenburg, um ihn zu begraben.
Herr Paſtor Stollbein iſt aus dieſer Geſchichte als ein
ſtoͤrriſcher, wunderlicher Mann bekannt, allein auſſer dieſer
Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins
Grab geſenkt wurde, weinte er helle Thraͤnen; und auf der
Kanzel waren unter beſtaͤndigem Weinen ſeine Worte: „Es iſt
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/104>, abgerufen am 23.11.2024.
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