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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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selbst vergoß tausend Thränen und beweinte die süßen Zeiten,
die er zu Zellberg zugebracht hatte. Der ganze westliche
Himmel sah ihm traurig aus, die Sonne verkroch sich hinter
ein schwarzes Wolkengebirge, und er wanderte im Dunkel des
Waldes den Giller hinunter.

Des Montags Morgens setzte ihn sein Vater wieder in seinen
alten Winkel an die Nähnadel. Das Schneiderhandwerk war
ihm nun doppelt verdrießlich, nachdem er die Süßigkeit des
Schulhaltens geschmeckt hatte. Das einzige, was ihm noch
übrig blieb, war, daß er seine alten Sonnenuhren wieder in
Ordnung brachte und seiner Großmutter die Herrlichkeit des
Homers erzählte, die sich dann auch alles wohl gefallen
ließ und wohl gar Geschmack daran hatte, nicht so sehr aus
eignem Naturtrieb, sondern weil sie sich erinnerte, daß ihr
seliger Eberhard ein großer Liebhaber von dergleichen Sa-
chen gewesen war.



Heinrich Stilling's Leiden stürmten nun mit voller Kraft
auf ihn zu, er glaubte fest, er sey nicht zum Schneiderhand-
werk geboren, und er schämte sich von Herzen, so dazusitzen
und zu Nähen; wenn daher jemand Ansehnliches in die Stube
kam, so wurde er roth im Gesicht.

Einige Wochen hernach begegnete dem Oheim Simon, Herr
Pastor Stollbein im Fuhrwerk; als er den Pastor von
Ferne her reiten sah, arbeitete er sich über Hals und Kopf
mit dem Ochsen und seiner Karre aus dem Wege auf das Feld,
stellte sich mit dem Hute in der Hand neben den Ochsen hin,
bis Herr Stollbein herzukam.

"Nu, was macht euers Schwagers Sohn?"

Er sitzt am Tisch und näht!

"Das ist recht! so will ich's haben!"

Stollbein ritt fort und Simon fuhr seiner Wege nach
Haus. Alsofort erzählte er Wilhelmen, was der Pastor
gesagt hatte; Heinrich hörte es mit größtem Herzeleid, er-
munterte sich aber wieder, als er sah, wie sein Vater mit auf-
gebrachtem Gemüth das Nähzeug von sich warf, aufsprang

ſelbſt vergoß tauſend Thraͤnen und beweinte die ſuͤßen Zeiten,
die er zu Zellberg zugebracht hatte. Der ganze weſtliche
Himmel ſah ihm traurig aus, die Sonne verkroch ſich hinter
ein ſchwarzes Wolkengebirge, und er wanderte im Dunkel des
Waldes den Giller hinunter.

Des Montags Morgens ſetzte ihn ſein Vater wieder in ſeinen
alten Winkel an die Naͤhnadel. Das Schneiderhandwerk war
ihm nun doppelt verdrießlich, nachdem er die Suͤßigkeit des
Schulhaltens geſchmeckt hatte. Das einzige, was ihm noch
uͤbrig blieb, war, daß er ſeine alten Sonnenuhren wieder in
Ordnung brachte und ſeiner Großmutter die Herrlichkeit des
Homers erzaͤhlte, die ſich dann auch alles wohl gefallen
ließ und wohl gar Geſchmack daran hatte, nicht ſo ſehr aus
eignem Naturtrieb, ſondern weil ſie ſich erinnerte, daß ihr
ſeliger Eberhard ein großer Liebhaber von dergleichen Sa-
chen geweſen war.



Heinrich Stilling’s Leiden ſtuͤrmten nun mit voller Kraft
auf ihn zu, er glaubte feſt, er ſey nicht zum Schneiderhand-
werk geboren, und er ſchaͤmte ſich von Herzen, ſo dazuſitzen
und zu Naͤhen; wenn daher jemand Anſehnliches in die Stube
kam, ſo wurde er roth im Geſicht.

Einige Wochen hernach begegnete dem Oheim Simon, Herr
Paſtor Stollbein im Fuhrwerk; als er den Paſtor von
Ferne her reiten ſah, arbeitete er ſich uͤber Hals und Kopf
mit dem Ochſen und ſeiner Karre aus dem Wege auf das Feld,
ſtellte ſich mit dem Hute in der Hand neben den Ochſen hin,
bis Herr Stollbein herzukam.

„Nu, was macht euers Schwagers Sohn?“

Er ſitzt am Tiſch und naͤht!

„Das iſt recht! ſo will ich’s haben!“

Stollbein ritt fort und Simon fuhr ſeiner Wege nach
Haus. Alſofort erzaͤhlte er Wilhelmen, was der Paſtor
geſagt hatte; Heinrich hoͤrte es mit groͤßtem Herzeleid, er-
munterte ſich aber wieder, als er ſah, wie ſein Vater mit auf-
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[120/0128] ſelbſt vergoß tauſend Thraͤnen und beweinte die ſuͤßen Zeiten, die er zu Zellberg zugebracht hatte. Der ganze weſtliche Himmel ſah ihm traurig aus, die Sonne verkroch ſich hinter ein ſchwarzes Wolkengebirge, und er wanderte im Dunkel des Waldes den Giller hinunter. Des Montags Morgens ſetzte ihn ſein Vater wieder in ſeinen alten Winkel an die Naͤhnadel. Das Schneiderhandwerk war ihm nun doppelt verdrießlich, nachdem er die Suͤßigkeit des Schulhaltens geſchmeckt hatte. Das einzige, was ihm noch uͤbrig blieb, war, daß er ſeine alten Sonnenuhren wieder in Ordnung brachte und ſeiner Großmutter die Herrlichkeit des Homers erzaͤhlte, die ſich dann auch alles wohl gefallen ließ und wohl gar Geſchmack daran hatte, nicht ſo ſehr aus eignem Naturtrieb, ſondern weil ſie ſich erinnerte, daß ihr ſeliger Eberhard ein großer Liebhaber von dergleichen Sa- chen geweſen war. Heinrich Stilling’s Leiden ſtuͤrmten nun mit voller Kraft auf ihn zu, er glaubte feſt, er ſey nicht zum Schneiderhand- werk geboren, und er ſchaͤmte ſich von Herzen, ſo dazuſitzen und zu Naͤhen; wenn daher jemand Anſehnliches in die Stube kam, ſo wurde er roth im Geſicht. Einige Wochen hernach begegnete dem Oheim Simon, Herr Paſtor Stollbein im Fuhrwerk; als er den Paſtor von Ferne her reiten ſah, arbeitete er ſich uͤber Hals und Kopf mit dem Ochſen und ſeiner Karre aus dem Wege auf das Feld, ſtellte ſich mit dem Hute in der Hand neben den Ochſen hin, bis Herr Stollbein herzukam. „Nu, was macht euers Schwagers Sohn?“ Er ſitzt am Tiſch und naͤht! „Das iſt recht! ſo will ich’s haben!“ Stollbein ritt fort und Simon fuhr ſeiner Wege nach Haus. Alſofort erzaͤhlte er Wilhelmen, was der Paſtor geſagt hatte; Heinrich hoͤrte es mit groͤßtem Herzeleid, er- munterte ſich aber wieder, als er ſah, wie ſein Vater mit auf- gebrachtem Gemuͤth das Naͤhzeug von ſich warf, aufſprang

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/128>, abgerufen am 23.11.2024.