Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Vorwort.


Liegt ohne Zweifel die einzig mögliche Rechtfertigung
der Veröffentlichung einer schriftstellerischen Arbeit in der
Nachweisung eines wesentlichen Zeitbedürfnisses, welches
durch jene befriediget wird: so hat diese neue Ausgabe der
sämmtlichen Werke Stilling's eine solche Rechtfertigung
in hohem Grade für sich.

Zwei große, das ganze Leben des Menschen durch-
dringende Gegensätze sind heut zu Tage hervorgetreten.
Sie beziehen sich sowohl auf das Wissen als das Thun, so-
wohl auf das innere Gebiet des Geistes als auf seine
äußere Verwirklichung im Staatsorganismus. In beiden
Sphären ist einer Seits eine rein negative, sich von den
Banden göttlicher wie menschlicher, religiöser wie politi-
scher Auctorität als solcher lossagende Tendenz, anderer
Seits eine rein positive, in der Auctorität der christlichen
Religion als auf etwas Unwandelbarem, für die Vernunft
des Menschen Unzugänglichem ruhende, und in ihr zugleich
die bestehenden Staatsformen als geheiligt anschauende
Weltansicht zum Bewußtseyn gekommen.

Durch die neuerdings erfolgte Reaction ist nun der
Zeitgeist aus seinem in die Außenwelt gehenden, auf die
Durchführung der Vernunft im Staate und die Voll-
bringung der politischen Freiheit gerichteten Streben her-
aus in seine innere Welt getrieben worden, und er scheint --
wie dieß die große Zahl der neuerdings erscheinenden reli-
giösen Schriften beweist -- er scheint jetzt daran zu arbeiten,
in seiner über dem politischen Treiben fast vergessenen
innern Welt, dem Reiche Gottes, sich wieder anbauen,
und die Freiheit, die er in Durchführung gewisser Staats-
formen vergebens zu verwirklichen suchte, auf höhere Weise

Vorwort.


Liegt ohne Zweifel die einzig mögliche Rechtfertigung
der Veröffentlichung einer ſchriftſtelleriſchen Arbeit in der
Nachweiſung eines weſentlichen Zeitbedürfniſſes, welches
durch jene befriediget wird: ſo hat dieſe neue Ausgabe der
ſämmtlichen Werke Stilling’s eine ſolche Rechtfertigung
in hohem Grade für ſich.

Zwei große, das ganze Leben des Menſchen durch-
dringende Gegenſätze ſind heut zu Tage hervorgetreten.
Sie beziehen ſich ſowohl auf das Wiſſen als das Thun, ſo-
wohl auf das innere Gebiet des Geiſtes als auf ſeine
äußere Verwirklichung im Staatsorganismus. In beiden
Sphären iſt einer Seits eine rein negative, ſich von den
Banden göttlicher wie menſchlicher, religiöſer wie politi-
ſcher Auctorität als ſolcher losſagende Tendenz, anderer
Seits eine rein poſitive, in der Auctorität der chriſtlichen
Religion als auf etwas Unwandelbarem, für die Vernunft
des Menſchen Unzugänglichem ruhende, und in ihr zugleich
die beſtehenden Staatsformen als geheiligt anſchauende
Weltanſicht zum Bewußtſeyn gekommen.

Durch die neuerdings erfolgte Reaction iſt nun der
Zeitgeiſt aus ſeinem in die Außenwelt gehenden, auf die
Durchführung der Vernunft im Staate und die Voll-
bringung der politiſchen Freiheit gerichteten Streben her-
aus in ſeine innere Welt getrieben worden, und er ſcheint —
wie dieß die große Zahl der neuerdings erſcheinenden reli-
giöſen Schriften beweist — er ſcheint jetzt daran zu arbeiten,
in ſeiner über dem politiſchen Treiben faſt vergeſſenen
innern Welt, dem Reiche Gottes, ſich wieder anbauen,
und die Freiheit, die er in Durchführung gewiſſer Staats-
formen vergebens zu verwirklichen ſuchte, auf höhere Weiſe

<TEI>
  <text>
    <front>
      <pb facs="#f0013" n="[5]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Vorwort</hi>.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p><hi rendition="#in">L</hi>iegt ohne Zweifel die einzig mögliche Rechtfertigung<lb/>
der Veröffentlichung einer &#x017F;chrift&#x017F;telleri&#x017F;chen Arbeit in der<lb/>
Nachwei&#x017F;ung eines we&#x017F;entlichen Zeitbedürfni&#x017F;&#x017F;es, welches<lb/>
durch jene befriediget wird: &#x017F;o hat die&#x017F;e neue Ausgabe der<lb/>
&#x017F;ämmtlichen Werke <hi rendition="#g">Stilling</hi>&#x2019;s eine &#x017F;olche Rechtfertigung<lb/>
in hohem Grade für &#x017F;ich.</p><lb/>
        <p>Zwei große, das ganze Leben des Men&#x017F;chen durch-<lb/>
dringende Gegen&#x017F;ätze &#x017F;ind heut zu Tage hervorgetreten.<lb/>
Sie beziehen &#x017F;ich &#x017F;owohl auf das Wi&#x017F;&#x017F;en als das Thun, &#x017F;o-<lb/>
wohl auf das innere Gebiet des Gei&#x017F;tes als auf &#x017F;eine<lb/>
äußere Verwirklichung im Staatsorganismus. In beiden<lb/>
Sphären i&#x017F;t einer Seits eine rein negative, &#x017F;ich von den<lb/>
Banden göttlicher wie men&#x017F;chlicher, religiö&#x017F;er wie politi-<lb/>
&#x017F;cher Auctorität als &#x017F;olcher los&#x017F;agende Tendenz, anderer<lb/>
Seits eine rein po&#x017F;itive, in der Auctorität der chri&#x017F;tlichen<lb/>
Religion als auf etwas Unwandelbarem, für die Vernunft<lb/>
des Men&#x017F;chen Unzugänglichem ruhende, und in ihr zugleich<lb/>
die be&#x017F;tehenden Staatsformen als geheiligt an&#x017F;chauende<lb/>
Weltan&#x017F;icht zum Bewußt&#x017F;eyn gekommen.</p><lb/>
        <p>Durch die neuerdings erfolgte Reaction i&#x017F;t nun der<lb/>
Zeitgei&#x017F;t aus &#x017F;einem in die Außenwelt gehenden, auf die<lb/>
Durchführung der Vernunft im Staate und die Voll-<lb/>
bringung der politi&#x017F;chen Freiheit gerichteten Streben her-<lb/>
aus in &#x017F;eine innere Welt getrieben worden, und er &#x017F;cheint &#x2014;<lb/>
wie dieß die große Zahl der neuerdings er&#x017F;cheinenden reli-<lb/>
giö&#x017F;en Schriften beweist &#x2014; er &#x017F;cheint jetzt daran zu arbeiten,<lb/>
in &#x017F;einer über dem politi&#x017F;chen Treiben fa&#x017F;t verge&#x017F;&#x017F;enen<lb/>
innern Welt, dem Reiche Gottes, &#x017F;ich wieder anbauen,<lb/>
und die Freiheit, die er in Durchführung gewi&#x017F;&#x017F;er Staats-<lb/>
formen vergebens zu verwirklichen &#x017F;uchte, auf höhere Wei&#x017F;e<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[[5]/0013] Vorwort. Liegt ohne Zweifel die einzig mögliche Rechtfertigung der Veröffentlichung einer ſchriftſtelleriſchen Arbeit in der Nachweiſung eines weſentlichen Zeitbedürfniſſes, welches durch jene befriediget wird: ſo hat dieſe neue Ausgabe der ſämmtlichen Werke Stilling’s eine ſolche Rechtfertigung in hohem Grade für ſich. Zwei große, das ganze Leben des Menſchen durch- dringende Gegenſätze ſind heut zu Tage hervorgetreten. Sie beziehen ſich ſowohl auf das Wiſſen als das Thun, ſo- wohl auf das innere Gebiet des Geiſtes als auf ſeine äußere Verwirklichung im Staatsorganismus. In beiden Sphären iſt einer Seits eine rein negative, ſich von den Banden göttlicher wie menſchlicher, religiöſer wie politi- ſcher Auctorität als ſolcher losſagende Tendenz, anderer Seits eine rein poſitive, in der Auctorität der chriſtlichen Religion als auf etwas Unwandelbarem, für die Vernunft des Menſchen Unzugänglichem ruhende, und in ihr zugleich die beſtehenden Staatsformen als geheiligt anſchauende Weltanſicht zum Bewußtſeyn gekommen. Durch die neuerdings erfolgte Reaction iſt nun der Zeitgeiſt aus ſeinem in die Außenwelt gehenden, auf die Durchführung der Vernunft im Staate und die Voll- bringung der politiſchen Freiheit gerichteten Streben her- aus in ſeine innere Welt getrieben worden, und er ſcheint — wie dieß die große Zahl der neuerdings erſcheinenden reli- giöſen Schriften beweist — er ſcheint jetzt daran zu arbeiten, in ſeiner über dem politiſchen Treiben faſt vergeſſenen innern Welt, dem Reiche Gottes, ſich wieder anbauen, und die Freiheit, die er in Durchführung gewiſſer Staats- formen vergebens zu verwirklichen ſuchte, auf höhere Weiſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/13
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. [5]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/13>, abgerufen am 21.11.2024.