fort, du mußt ruhig seyn; du warst sonst ein sanftes, ruhi- ges Mädchen, wie ist das, daß du dich so verändert hast? Du siehst, die Tante weint über dich, thut dir das nicht leid? Ich selber habe über dich weinen müssen, besinne dich doch einmal! du warst sonst nicht, wie du nun bist, ei doch, wie du sonst warst! Sie versetzte: Höre! soll ich dir ein fein Stückchen erzählen?
"Es war einmal eine alte Frau."
Nun stand sie auf, machte sich krumm, nahm einen Stock in die Hand, ging in der Stube herum und machte die Figur einer alten Frau ganz natürlich nach.
"Du hast wohl ehe eine alte Frau sehen betteln gehen. Diese "alte Frau bettelte auch, und wenn sie Etwas bekam, dann "sagte sie: Gott lohn' euch! Nicht wahr? so sagen die Bet- "telleute, wenn man ihnen Etwas gibt? -- Die Bettelfrau "kam an eine Thür -- an eine Thür! -- Da stand ein freund- "licher Schelm vom Jungen am Feuer und wärmte sich -- "das war so ein Junge, als --
Sie winkte den Schulmeister an.
"Der Junge sagte freundlich zu der armen alten Frau, wie "sie so an der Thüre stand und zitterte: Kommt, Altmutter, "und wärmt euch! Sie kam herzu.
Nun ging sie auch wieder ganz behend, kam und stand krumm neben Stillingen.
"Sie ging aber zu nahe aus Feuer zu stehen; -- ihre alten "Lumpen fingen an zu brennen, und sie wards nicht gewahr. "Der Jüngling stand und sah das. -- Er hätt's doch löschen "sollen, nicht wahr, Schulmeister? -- Er hätt's löschen sollen?
Stilling schwieg. Er wußte nicht, wie ihm war; er hatte so eine dunkle Ahnung, die ihn sehr melancholisch machte. Sie wollte aber eine Antwort haben; sie sagte:
"Nicht wahr, er hätte löschen sollen? -- Gebt mir eine Ant- "wort, so will ich auch sagen: Gott lohn' euch!
Ja! erwiederte er, er hätte löschen sollen. Aber wenn er nun kein Wasser hatte, nicht löschen konnte! -- Stilling stand auf, er fand keine Ruhe mehr, doch durfte er sichs nicht merken lassen.
fort, du mußt ruhig ſeyn; du warſt ſonſt ein ſanftes, ruhi- ges Maͤdchen, wie iſt das, daß du dich ſo veraͤndert haſt? Du ſiehſt, die Tante weint uͤber dich, thut dir das nicht leid? Ich ſelber habe uͤber dich weinen muͤſſen, beſinne dich doch einmal! du warſt ſonſt nicht, wie du nun biſt, ei doch, wie du ſonſt warſt! Sie verſetzte: Hoͤre! ſoll ich dir ein fein Stuͤckchen erzaͤhlen?
„Es war einmal eine alte Frau.“
Nun ſtand ſie auf, machte ſich krumm, nahm einen Stock in die Hand, ging in der Stube herum und machte die Figur einer alten Frau ganz natuͤrlich nach.
„Du haſt wohl ehe eine alte Frau ſehen betteln gehen. Dieſe „alte Frau bettelte auch, und wenn ſie Etwas bekam, dann „ſagte ſie: Gott lohn’ euch! Nicht wahr? ſo ſagen die Bet- „telleute, wenn man ihnen Etwas gibt? — Die Bettelfrau „kam an eine Thuͤr — an eine Thuͤr! — Da ſtand ein freund- „licher Schelm vom Jungen am Feuer und waͤrmte ſich — „das war ſo ein Junge, als —
Sie winkte den Schulmeiſter an.
„Der Junge ſagte freundlich zu der armen alten Frau, wie „ſie ſo an der Thuͤre ſtand und zitterte: Kommt, Altmutter, „und waͤrmt euch! Sie kam herzu.
Nun ging ſie auch wieder ganz behend, kam und ſtand krumm neben Stillingen.
„Sie ging aber zu nahe aus Feuer zu ſtehen; — ihre alten „Lumpen fingen an zu brennen, und ſie wards nicht gewahr. „Der Juͤngling ſtand und ſah das. — Er haͤtt’s doch loͤſchen „ſollen, nicht wahr, Schulmeiſter? — Er haͤtt’s loͤſchen ſollen?
Stilling ſchwieg. Er wußte nicht, wie ihm war; er hatte ſo eine dunkle Ahnung, die ihn ſehr melancholiſch machte. Sie wollte aber eine Antwort haben; ſie ſagte:
„Nicht wahr, er haͤtte loͤſchen ſollen? — Gebt mir eine Ant- „wort, ſo will ich auch ſagen: Gott lohn’ euch!
Ja! erwiederte er, er haͤtte loͤſchen ſollen. Aber wenn er nun kein Waſſer hatte, nicht loͤſchen konnte! — Stilling ſtand auf, er fand keine Ruhe mehr, doch durfte er ſichs nicht merken laſſen.
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ſiehſt, die Tante weint uͤber dich, thut dir das nicht leid?
Ich ſelber habe uͤber dich weinen muͤſſen, beſinne dich doch
einmal! du warſt ſonſt nicht, wie du nun biſt, ei doch, wie
du ſonſt warſt! Sie verſetzte: Hoͤre! ſoll ich dir ein fein
Stuͤckchen erzaͤhlen?
„Es war einmal eine alte Frau.“
Nun ſtand ſie auf, machte ſich krumm, nahm einen Stock
in die Hand, ging in der Stube herum und machte die
Figur einer alten Frau ganz natuͤrlich nach.
„Du haſt wohl ehe eine alte Frau ſehen betteln gehen. Dieſe
„alte Frau bettelte auch, und wenn ſie Etwas bekam, dann
„ſagte ſie: Gott lohn’ euch! Nicht wahr? ſo ſagen die Bet-
„telleute, wenn man ihnen Etwas gibt? — Die Bettelfrau
„kam an eine Thuͤr — an eine Thuͤr! — Da ſtand ein freund-
„licher Schelm vom Jungen am Feuer und waͤrmte ſich —
„das war ſo ein Junge, als —
Sie winkte den Schulmeiſter an.
„Der Junge ſagte freundlich zu der armen alten Frau, wie
„ſie ſo an der Thuͤre ſtand und zitterte: Kommt, Altmutter,
„und waͤrmt euch! Sie kam herzu.
Nun ging ſie auch wieder ganz behend, kam und ſtand krumm
neben Stillingen.
„Sie ging aber zu nahe aus Feuer zu ſtehen; — ihre alten
„Lumpen fingen an zu brennen, und ſie wards nicht gewahr.
„Der Juͤngling ſtand und ſah das. — Er haͤtt’s doch loͤſchen
„ſollen, nicht wahr, Schulmeiſter? — Er haͤtt’s loͤſchen ſollen?
Stilling ſchwieg. Er wußte nicht, wie ihm war; er
hatte ſo eine dunkle Ahnung, die ihn ſehr melancholiſch
machte. Sie wollte aber eine Antwort haben; ſie ſagte:
„Nicht wahr, er haͤtte loͤſchen ſollen? — Gebt mir eine Ant-
„wort, ſo will ich auch ſagen: Gott lohn’ euch!
Ja! erwiederte er, er haͤtte loͤſchen ſollen. Aber wenn er
nun kein Waſſer hatte, nicht loͤſchen konnte! — Stilling
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/152>, abgerufen am 24.11.2024.
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