Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

"Ja! (fuhr Anna fort und weinte) dann hätte er alles
"Wasser in seinem Leibe zu den Augen herausweinen sollen,
"das hätte so zwei hübsche Bächlein gegeben, zu löschen."

Sie kam wieder und sah ihm scharf ins Gesicht; die Thrä-
nen standen ihm in den Augen.

"Nun, die will ich dir doch abwischen!"

Sie nahm ihr weißes Schnupftüchlein, wischte sie ab und
setzte sich wieder still an ihren Ort. Alle waren still und trau-
rig. Drauf gingen sie zu Bett.

Stillingen kam kein Schlaf in die Augen; er meinte
nicht anders, als wenn ihm das Herz im Leibe vor lauter
Mitleid und Erbarmen zerspringen wollte. Er besann sich,
was da wohl seine Pflicht wäre? -- Sein Herz sprach für
sie um Erbarmung, sein Gewissen aber forderte die strengste
Zurückhaltung. Er untersuchte nun, welcher Forderung er
folgen müßte? Das Herz sagte: Du kannst sie glückselig ma-
chen. Das Gewissen aber: Diese Glückseligkeit ist von kur-
zer Dauer, und dann folgt ein unabsehlich langes Elend darauf.
Das Herz meinte: Gott könnte die zukünftigen Schicksale wohl
recht glücklich ausfallen lassen; das Gewissen aber urtheilte:
man müßte Gott nicht versuchen, und nicht von ihm erwarten,
daß er um ein paar Leidenschaften zweier armer Würmer wil-
len, eine ganze Verkettung vieler auf einander folgender Schick-
sale, wobei so viele andere Menschen interessirt sind, zerreißen
und verändern solle. Das ist auch wahr! sagte Stilling,
sprang aus dem Bett, wandelte auf und ab. Ich will freund-
lich gegen sie seyn, aber mit Ernst und Zurückhaltung.

Des Sonntags Morgens begab sich der Schulmeister mit
der armen Jungfer auf den Weg. Sie wollte absolut an sei-
nem Arm gehen; er ließ das nicht gern zu, weil es ihm sehr
übel würde genommen worden seyn, wenn es ehrbare Leute
gesehen hätten. Doch er überwand dieses Vorurtheil und
führte sie am rechten Arm. Als sie auf oben gedachte Haide
kamen, verließ sie ihn, spazierte umher und pflückte Kräuter,
aber keine grüne, sondern solche, die entweder halb oder ganz
welk und dürre waren. Dabei sang sie folgendes Lied:


Stilling's Schriften. I. Bd 10

„Ja! (fuhr Anna fort und weinte) dann haͤtte er alles
„Waſſer in ſeinem Leibe zu den Augen herausweinen ſollen,
„das haͤtte ſo zwei huͤbſche Baͤchlein gegeben, zu loͤſchen.“

Sie kam wieder und ſah ihm ſcharf ins Geſicht; die Thraͤ-
nen ſtanden ihm in den Augen.

„Nun, die will ich dir doch abwiſchen!“

Sie nahm ihr weißes Schnupftuͤchlein, wiſchte ſie ab und
ſetzte ſich wieder ſtill an ihren Ort. Alle waren ſtill und trau-
rig. Drauf gingen ſie zu Bett.

Stillingen kam kein Schlaf in die Augen; er meinte
nicht anders, als wenn ihm das Herz im Leibe vor lauter
Mitleid und Erbarmen zerſpringen wollte. Er beſann ſich,
was da wohl ſeine Pflicht waͤre? — Sein Herz ſprach fuͤr
ſie um Erbarmung, ſein Gewiſſen aber forderte die ſtrengſte
Zuruͤckhaltung. Er unterſuchte nun, welcher Forderung er
folgen muͤßte? Das Herz ſagte: Du kannſt ſie gluͤckſelig ma-
chen. Das Gewiſſen aber: Dieſe Gluͤckſeligkeit iſt von kur-
zer Dauer, und dann folgt ein unabſehlich langes Elend darauf.
Das Herz meinte: Gott koͤnnte die zukuͤnftigen Schickſale wohl
recht gluͤcklich ausfallen laſſen; das Gewiſſen aber urtheilte:
man muͤßte Gott nicht verſuchen, und nicht von ihm erwarten,
daß er um ein paar Leidenſchaften zweier armer Wuͤrmer wil-
len, eine ganze Verkettung vieler auf einander folgender Schick-
ſale, wobei ſo viele andere Menſchen intereſſirt ſind, zerreißen
und veraͤndern ſolle. Das iſt auch wahr! ſagte Stilling,
ſprang aus dem Bett, wandelte auf und ab. Ich will freund-
lich gegen ſie ſeyn, aber mit Ernſt und Zuruͤckhaltung.

Des Sonntags Morgens begab ſich der Schulmeiſter mit
der armen Jungfer auf den Weg. Sie wollte abſolut an ſei-
nem Arm gehen; er ließ das nicht gern zu, weil es ihm ſehr
uͤbel wuͤrde genommen worden ſeyn, wenn es ehrbare Leute
geſehen haͤtten. Doch er uͤberwand dieſes Vorurtheil und
fuͤhrte ſie am rechten Arm. Als ſie auf oben gedachte Haide
kamen, verließ ſie ihn, ſpazierte umher und pfluͤckte Kraͤuter,
aber keine gruͤne, ſondern ſolche, die entweder halb oder ganz
welk und duͤrre waren. Dabei ſang ſie folgendes Lied:


Stilling’s Schriften. I. Bd 10
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0153" n="145"/>
            <p>&#x201E;Ja! (fuhr <hi rendition="#g">Anna</hi> fort und weinte) dann ha&#x0364;tte er alles<lb/>
&#x201E;Wa&#x017F;&#x017F;er in &#x017F;einem Leibe zu den Augen herausweinen &#x017F;ollen,<lb/>
&#x201E;das ha&#x0364;tte &#x017F;o zwei hu&#x0364;b&#x017F;che Ba&#x0364;chlein gegeben, zu lo&#x0364;&#x017F;chen.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Sie kam wieder und &#x017F;ah ihm &#x017F;charf ins Ge&#x017F;icht; die Thra&#x0364;-<lb/>
nen &#x017F;tanden ihm in den Augen.</p><lb/>
            <p>&#x201E;Nun, die will ich dir doch abwi&#x017F;chen!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Sie nahm ihr weißes Schnupftu&#x0364;chlein, wi&#x017F;chte &#x017F;ie ab und<lb/>
&#x017F;etzte &#x017F;ich wieder &#x017F;till an ihren Ort. Alle waren &#x017F;till und trau-<lb/>
rig. Drauf gingen &#x017F;ie zu Bett.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Stillingen</hi> kam kein Schlaf in die Augen; er meinte<lb/>
nicht anders, als wenn ihm das Herz im Leibe vor lauter<lb/>
Mitleid und Erbarmen zer&#x017F;pringen wollte. Er be&#x017F;ann &#x017F;ich,<lb/>
was da wohl &#x017F;eine Pflicht wa&#x0364;re? &#x2014; Sein Herz &#x017F;prach fu&#x0364;r<lb/>
&#x017F;ie um Erbarmung, &#x017F;ein Gewi&#x017F;&#x017F;en aber forderte die &#x017F;treng&#x017F;te<lb/>
Zuru&#x0364;ckhaltung. Er unter&#x017F;uchte nun, welcher Forderung er<lb/>
folgen mu&#x0364;ßte? Das Herz &#x017F;agte: Du kann&#x017F;t &#x017F;ie glu&#x0364;ck&#x017F;elig ma-<lb/>
chen. Das Gewi&#x017F;&#x017F;en aber: Die&#x017F;e Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeit i&#x017F;t von kur-<lb/>
zer Dauer, und dann folgt ein unab&#x017F;ehlich langes Elend darauf.<lb/>
Das Herz meinte: Gott ko&#x0364;nnte die zuku&#x0364;nftigen Schick&#x017F;ale wohl<lb/>
recht glu&#x0364;cklich ausfallen la&#x017F;&#x017F;en; das Gewi&#x017F;&#x017F;en aber urtheilte:<lb/>
man mu&#x0364;ßte Gott nicht ver&#x017F;uchen, und nicht von ihm erwarten,<lb/>
daß er um ein paar Leiden&#x017F;chaften zweier armer Wu&#x0364;rmer wil-<lb/>
len, eine ganze Verkettung vieler auf einander folgender Schick-<lb/>
&#x017F;ale, wobei &#x017F;o viele andere Men&#x017F;chen intere&#x017F;&#x017F;irt &#x017F;ind, zerreißen<lb/>
und vera&#x0364;ndern &#x017F;olle. Das i&#x017F;t auch wahr! &#x017F;agte Stilling,<lb/>
&#x017F;prang aus dem Bett, wandelte auf und ab. Ich will freund-<lb/>
lich gegen &#x017F;ie &#x017F;eyn, aber mit Ern&#x017F;t und Zuru&#x0364;ckhaltung.</p><lb/>
            <p>Des Sonntags Morgens begab &#x017F;ich der Schulmei&#x017F;ter mit<lb/>
der armen Jungfer auf den Weg. Sie wollte ab&#x017F;olut an &#x017F;ei-<lb/>
nem Arm gehen; er ließ das nicht gern zu, weil es ihm &#x017F;ehr<lb/>
u&#x0364;bel wu&#x0364;rde genommen worden &#x017F;eyn, wenn es ehrbare Leute<lb/>
ge&#x017F;ehen ha&#x0364;tten. Doch er u&#x0364;berwand die&#x017F;es Vorurtheil und<lb/>
fu&#x0364;hrte &#x017F;ie am rechten Arm. Als &#x017F;ie auf oben gedachte Haide<lb/>
kamen, verließ &#x017F;ie ihn, &#x017F;pazierte umher und pflu&#x0364;ckte Kra&#x0364;uter,<lb/>
aber keine gru&#x0364;ne, &#x017F;ondern &#x017F;olche, die entweder halb oder ganz<lb/>
welk und du&#x0364;rre waren. Dabei &#x017F;ang &#x017F;ie folgendes Lied:</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">Stilling&#x2019;s Schriften. <hi rendition="#aq">I.</hi> Bd 10</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[145/0153] „Ja! (fuhr Anna fort und weinte) dann haͤtte er alles „Waſſer in ſeinem Leibe zu den Augen herausweinen ſollen, „das haͤtte ſo zwei huͤbſche Baͤchlein gegeben, zu loͤſchen.“ Sie kam wieder und ſah ihm ſcharf ins Geſicht; die Thraͤ- nen ſtanden ihm in den Augen. „Nun, die will ich dir doch abwiſchen!“ Sie nahm ihr weißes Schnupftuͤchlein, wiſchte ſie ab und ſetzte ſich wieder ſtill an ihren Ort. Alle waren ſtill und trau- rig. Drauf gingen ſie zu Bett. Stillingen kam kein Schlaf in die Augen; er meinte nicht anders, als wenn ihm das Herz im Leibe vor lauter Mitleid und Erbarmen zerſpringen wollte. Er beſann ſich, was da wohl ſeine Pflicht waͤre? — Sein Herz ſprach fuͤr ſie um Erbarmung, ſein Gewiſſen aber forderte die ſtrengſte Zuruͤckhaltung. Er unterſuchte nun, welcher Forderung er folgen muͤßte? Das Herz ſagte: Du kannſt ſie gluͤckſelig ma- chen. Das Gewiſſen aber: Dieſe Gluͤckſeligkeit iſt von kur- zer Dauer, und dann folgt ein unabſehlich langes Elend darauf. Das Herz meinte: Gott koͤnnte die zukuͤnftigen Schickſale wohl recht gluͤcklich ausfallen laſſen; das Gewiſſen aber urtheilte: man muͤßte Gott nicht verſuchen, und nicht von ihm erwarten, daß er um ein paar Leidenſchaften zweier armer Wuͤrmer wil- len, eine ganze Verkettung vieler auf einander folgender Schick- ſale, wobei ſo viele andere Menſchen intereſſirt ſind, zerreißen und veraͤndern ſolle. Das iſt auch wahr! ſagte Stilling, ſprang aus dem Bett, wandelte auf und ab. Ich will freund- lich gegen ſie ſeyn, aber mit Ernſt und Zuruͤckhaltung. Des Sonntags Morgens begab ſich der Schulmeiſter mit der armen Jungfer auf den Weg. Sie wollte abſolut an ſei- nem Arm gehen; er ließ das nicht gern zu, weil es ihm ſehr uͤbel wuͤrde genommen worden ſeyn, wenn es ehrbare Leute geſehen haͤtten. Doch er uͤberwand dieſes Vorurtheil und fuͤhrte ſie am rechten Arm. Als ſie auf oben gedachte Haide kamen, verließ ſie ihn, ſpazierte umher und pfluͤckte Kraͤuter, aber keine gruͤne, ſondern ſolche, die entweder halb oder ganz welk und duͤrre waren. Dabei ſang ſie folgendes Lied: Stilling’s Schriften. I. Bd 10

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/153
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/153>, abgerufen am 21.11.2024.