denn Anna hatte beständig einen langen Stab in der Hand; indessen ließ sich die gute Alte gern dazu gebrauchen, weil sie Anna damit stillen konnte und nebst gutem Essen und Trinken einen guten Lohn bekam.
Dieses Elend dauerte nur einige Wochen. Anna kam wie- der zu sich selbst, sie bedauerte sehr den Zustand, worin sie ge- wesen war, wurde vorsichtiger und vernünftiger als vorhin, und Stilling lebte wieder neu auf, besonders als er nun merkte, daß er zwei so gefährlichen Klippen entgangen war. Unterdessen entdeckte Niemand in der Familie jemalen, was die wahre Ursache von Annens Unfall gewesen war.
Stilling besorgte seine Schule unverdrossen fort, doch ob er gleich Fleiß anwandte, seinen Schülern Wissenschaften beizubringen, so fanden sich doch ziemlich viele unter seinen Bauern, die anfingen, ihm recht feind zu werden. Die Ursache davon ist nicht zu entwickeln; Stilling war einer von den Menschen, die Niemand gleichgültig sind, entweder man mußte ihn lieben, oder man mußte ihn hassen; die Erstern sahen auf sein gutes Herz und vergaben ihm seine Fehler gern; die An- dern betrachteten sein gutes Herz als dumme Einfalt, seine Handlungen als Fuchsschwänzereien und seine Gaben als Prahl- sucht. Diese wurden ihm unversöhnlich feind, und je mehr er sie, seinem Charakter gemäß, mit Liebe zu gewinnen suchte, je böser sie wurden; denn sie glaubten nur, es sey blos Schmei- chelei von ihm, und wurden nur desto feindseliger gegen ihn. Endlich beging er eine Unvorsichtigkeit, die ihn vollends um die Preisinger Schule brachte, wie gut die Sache auch von seiner Seite gemeint war.
Er band sich nicht gern an die alte gewöhnliche Schulmethode, sondern suchte allerhand Mittel hervor, um sich und seine Schü- ler zu belustigen; deßwegen ersann er täglich etwas Neues. Sein erfinderischer Geist fand vielerlei Wege, dasjenige, was die Kinder zu lernen hatten, ihnen spielend beizubringen. Viele seiner Bauern sahen es als nützlich an, Andere betrach- teten es als Kindereien und ihn als einen Stocknarren. Be- sonders aber fing er ein Stück an, das allgemeines Aufsehen machte. Er schnitt weiße Blätter in der Größe wie Karten;
denn Anna hatte beſtaͤndig einen langen Stab in der Hand; indeſſen ließ ſich die gute Alte gern dazu gebrauchen, weil ſie Anna damit ſtillen konnte und nebſt gutem Eſſen und Trinken einen guten Lohn bekam.
Dieſes Elend dauerte nur einige Wochen. Anna kam wie- der zu ſich ſelbſt, ſie bedauerte ſehr den Zuſtand, worin ſie ge- weſen war, wurde vorſichtiger und vernuͤnftiger als vorhin, und Stilling lebte wieder neu auf, beſonders als er nun merkte, daß er zwei ſo gefaͤhrlichen Klippen entgangen war. Unterdeſſen entdeckte Niemand in der Familie jemalen, was die wahre Urſache von Annens Unfall geweſen war.
Stilling beſorgte ſeine Schule unverdroſſen fort, doch ob er gleich Fleiß anwandte, ſeinen Schuͤlern Wiſſenſchaften beizubringen, ſo fanden ſich doch ziemlich viele unter ſeinen Bauern, die anfingen, ihm recht feind zu werden. Die Urſache davon iſt nicht zu entwickeln; Stilling war einer von den Menſchen, die Niemand gleichguͤltig ſind, entweder man mußte ihn lieben, oder man mußte ihn haſſen; die Erſtern ſahen auf ſein gutes Herz und vergaben ihm ſeine Fehler gern; die An- dern betrachteten ſein gutes Herz als dumme Einfalt, ſeine Handlungen als Fuchsſchwaͤnzereien und ſeine Gaben als Prahl- ſucht. Dieſe wurden ihm unverſoͤhnlich feind, und je mehr er ſie, ſeinem Charakter gemaͤß, mit Liebe zu gewinnen ſuchte, je boͤſer ſie wurden; denn ſie glaubten nur, es ſey blos Schmei- chelei von ihm, und wurden nur deſto feindſeliger gegen ihn. Endlich beging er eine Unvorſichtigkeit, die ihn vollends um die Preiſinger Schule brachte, wie gut die Sache auch von ſeiner Seite gemeint war.
Er band ſich nicht gern an die alte gewoͤhnliche Schulmethode, ſondern ſuchte allerhand Mittel hervor, um ſich und ſeine Schuͤ- ler zu beluſtigen; deßwegen erſann er taͤglich etwas Neues. Sein erfinderiſcher Geiſt fand vielerlei Wege, dasjenige, was die Kinder zu lernen hatten, ihnen ſpielend beizubringen. Viele ſeiner Bauern ſahen es als nuͤtzlich an, Andere betrach- teten es als Kindereien und ihn als einen Stocknarren. Be- ſonders aber fing er ein Stuͤck an, das allgemeines Aufſehen machte. Er ſchnitt weiße Blaͤtter in der Groͤße wie Karten;
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0158"n="150"/>
denn <hirendition="#g">Anna</hi> hatte beſtaͤndig einen langen Stab in der Hand;<lb/>
indeſſen ließ ſich die gute Alte gern dazu gebrauchen, weil<lb/>ſie <hirendition="#g">Anna</hi> damit ſtillen konnte und nebſt gutem Eſſen und<lb/>
Trinken einen guten Lohn bekam.</p><lb/><p>Dieſes Elend dauerte nur einige Wochen. <hirendition="#g">Anna</hi> kam wie-<lb/>
der zu ſich ſelbſt, ſie bedauerte ſehr den Zuſtand, worin ſie ge-<lb/>
weſen war, wurde vorſichtiger und vernuͤnftiger als vorhin,<lb/>
und <hirendition="#g">Stilling</hi> lebte wieder neu auf, beſonders als er nun<lb/>
merkte, daß er zwei ſo gefaͤhrlichen Klippen entgangen war.<lb/>
Unterdeſſen entdeckte Niemand in der Familie jemalen, was<lb/>
die wahre Urſache von <hirendition="#g">Annens</hi> Unfall geweſen war.</p><lb/><p><hirendition="#g">Stilling</hi> beſorgte ſeine Schule unverdroſſen fort, doch<lb/>
ob er gleich Fleiß anwandte, ſeinen Schuͤlern Wiſſenſchaften<lb/>
beizubringen, ſo fanden ſich doch ziemlich viele unter ſeinen<lb/>
Bauern, die anfingen, ihm recht feind zu werden. Die Urſache<lb/>
davon iſt nicht zu entwickeln; <hirendition="#g">Stilling</hi> war einer von den<lb/>
Menſchen, die Niemand gleichguͤltig ſind, entweder man mußte<lb/>
ihn lieben, oder man mußte ihn haſſen; die Erſtern ſahen auf<lb/>ſein gutes Herz und vergaben ihm ſeine Fehler gern; die An-<lb/>
dern betrachteten ſein gutes Herz als dumme Einfalt, ſeine<lb/>
Handlungen als Fuchsſchwaͤnzereien und ſeine Gaben als Prahl-<lb/>ſucht. Dieſe wurden ihm unverſoͤhnlich feind, und je mehr<lb/>
er ſie, ſeinem Charakter gemaͤß, mit Liebe zu gewinnen ſuchte,<lb/>
je boͤſer ſie wurden; denn ſie glaubten nur, es ſey blos Schmei-<lb/>
chelei von ihm, und wurden nur deſto feindſeliger gegen ihn.<lb/>
Endlich beging er eine Unvorſichtigkeit, die ihn vollends um<lb/>
die <hirendition="#g">Preiſinger</hi> Schule brachte, wie gut die Sache auch von<lb/>ſeiner Seite gemeint war.</p><lb/><p>Er band ſich nicht gern an die alte gewoͤhnliche Schulmethode,<lb/>ſondern ſuchte allerhand Mittel hervor, um ſich und ſeine Schuͤ-<lb/>
ler zu beluſtigen; deßwegen erſann er taͤglich etwas Neues.<lb/>
Sein erfinderiſcher Geiſt fand vielerlei Wege, dasjenige, was<lb/>
die Kinder zu lernen hatten, ihnen ſpielend beizubringen.<lb/>
Viele ſeiner Bauern ſahen es als nuͤtzlich an, Andere betrach-<lb/>
teten es als Kindereien und ihn als einen Stocknarren. Be-<lb/>ſonders aber fing er ein Stuͤck an, das allgemeines Aufſehen<lb/>
machte. Er ſchnitt weiße Blaͤtter in der Groͤße wie Karten;<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[150/0158]
denn Anna hatte beſtaͤndig einen langen Stab in der Hand;
indeſſen ließ ſich die gute Alte gern dazu gebrauchen, weil
ſie Anna damit ſtillen konnte und nebſt gutem Eſſen und
Trinken einen guten Lohn bekam.
Dieſes Elend dauerte nur einige Wochen. Anna kam wie-
der zu ſich ſelbſt, ſie bedauerte ſehr den Zuſtand, worin ſie ge-
weſen war, wurde vorſichtiger und vernuͤnftiger als vorhin,
und Stilling lebte wieder neu auf, beſonders als er nun
merkte, daß er zwei ſo gefaͤhrlichen Klippen entgangen war.
Unterdeſſen entdeckte Niemand in der Familie jemalen, was
die wahre Urſache von Annens Unfall geweſen war.
Stilling beſorgte ſeine Schule unverdroſſen fort, doch
ob er gleich Fleiß anwandte, ſeinen Schuͤlern Wiſſenſchaften
beizubringen, ſo fanden ſich doch ziemlich viele unter ſeinen
Bauern, die anfingen, ihm recht feind zu werden. Die Urſache
davon iſt nicht zu entwickeln; Stilling war einer von den
Menſchen, die Niemand gleichguͤltig ſind, entweder man mußte
ihn lieben, oder man mußte ihn haſſen; die Erſtern ſahen auf
ſein gutes Herz und vergaben ihm ſeine Fehler gern; die An-
dern betrachteten ſein gutes Herz als dumme Einfalt, ſeine
Handlungen als Fuchsſchwaͤnzereien und ſeine Gaben als Prahl-
ſucht. Dieſe wurden ihm unverſoͤhnlich feind, und je mehr
er ſie, ſeinem Charakter gemaͤß, mit Liebe zu gewinnen ſuchte,
je boͤſer ſie wurden; denn ſie glaubten nur, es ſey blos Schmei-
chelei von ihm, und wurden nur deſto feindſeliger gegen ihn.
Endlich beging er eine Unvorſichtigkeit, die ihn vollends um
die Preiſinger Schule brachte, wie gut die Sache auch von
ſeiner Seite gemeint war.
Er band ſich nicht gern an die alte gewoͤhnliche Schulmethode,
ſondern ſuchte allerhand Mittel hervor, um ſich und ſeine Schuͤ-
ler zu beluſtigen; deßwegen erſann er taͤglich etwas Neues.
Sein erfinderiſcher Geiſt fand vielerlei Wege, dasjenige, was
die Kinder zu lernen hatten, ihnen ſpielend beizubringen.
Viele ſeiner Bauern ſahen es als nuͤtzlich an, Andere betrach-
teten es als Kindereien und ihn als einen Stocknarren. Be-
ſonders aber fing er ein Stuͤck an, das allgemeines Aufſehen
machte. Er ſchnitt weiße Blaͤtter in der Groͤße wie Karten;
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/158>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.