an: "Hört, Ihr Nachbarn, ich will Euch was erzählen: Als ich noch mit dem Kasten auf dem Rücken längs die Thüren ging und Hüte feil trug, so kam ich auch von ungefähr einmal ins Königreich Siberien, und zwar in die Hauptstadt Emu- gie; nun war der König eben gestorben und die Reichsstände wollten einen Andern wählen. Nun war aber ein Umstand da- bei, worauf Alles ankam: das Reich Kreuz-Spinn-Land gränzt an Siberien, und beide Staaten haben sich seit der Sündfluth her immer in den Haaren gelegen, blos aus der Ur- sache: Die Siberier haben lange in die Höhe stehende Ohren, wie ein Esel, und die Kreuz-Spinn-Länder haben Ohr- lappen, die bis auf die Schulter hangen. Nun war von jeher Streit unter beiden Völkern; Jedes wollte behaupten, Adam hätte Ohren gehabt wie sie. Deßwegen mußte in beiden Län- dern immer ein rechtgläubiger König erwählt werden; das beste Zeichen davon war, wenn Jemand gegen die andere Nation ei- nen unversöhnlichen Haß hatte. Als ich nun da war, so hatten die Siberier einen vortrefflichen Mann im Vorschlag, den sie nicht so sehr wegen seiner Rechtgläubigkeit, als vielmehr wegen seinen vortrefflichen Gaben, zum König machen wollten. Nur er hatte hoch in die Höhe stehende Ohren und auch herabhan- gende Ohrlappen, er trug also in dem Fall auf beiden Schul- tern; das wollte zwar vielen nicht gefallen, doch man wählte ihn. Nun beschloß der Reichsrath, daß der König mit der wohlgeordneten hochohrigten Armee gegen den langohrigten Kö- nig zu Felde ziehen sollte; das geschah. Allein, was das einen Allarm gab! -- Beide Könige kamen ganz friedlich zusammen, gaben sich die Hände und hießen sich Brüder. Alsofort setzte man den König mit den Zwitterohren wieder ab und schnitt ihm die Ohren ganz weg, nun konnt' er laufen."
Der Bürgermeister Scultetus nahm seine lange Pfeife aus dem Mund und sagte: der Herr Gayet ist doch weit in der Welt umher gewesen. Ja wohl! sagte ein Anderer, aber ich glaube, er gibt uns einen Stich; er will damit sagen, wir wären alle zusammen Esel. Schöffe Keilhof aber lachte, blinkte Herrn Gayet heimlich an und sagte ihm ins Ohr: die Narren verstehen nicht, daß Sie den Pastor und sein Consisiorium
an: „Hoͤrt, Ihr Nachbarn, ich will Euch was erzaͤhlen: Als ich noch mit dem Kaſten auf dem Ruͤcken laͤngs die Thuͤren ging und Huͤte feil trug, ſo kam ich auch von ungefaͤhr einmal ins Koͤnigreich Siberien, und zwar in die Hauptſtadt Emu- gie; nun war der Koͤnig eben geſtorben und die Reichsſtaͤnde wollten einen Andern waͤhlen. Nun war aber ein Umſtand da- bei, worauf Alles ankam: das Reich Kreuz-Spinn-Land graͤnzt an Siberien, und beide Staaten haben ſich ſeit der Suͤndfluth her immer in den Haaren gelegen, blos aus der Ur- ſache: Die Siberier haben lange in die Hoͤhe ſtehende Ohren, wie ein Eſel, und die Kreuz-Spinn-Laͤnder haben Ohr- lappen, die bis auf die Schulter hangen. Nun war von jeher Streit unter beiden Voͤlkern; Jedes wollte behaupten, Adam haͤtte Ohren gehabt wie ſie. Deßwegen mußte in beiden Laͤn- dern immer ein rechtglaͤubiger Koͤnig erwaͤhlt werden; das beſte Zeichen davon war, wenn Jemand gegen die andere Nation ei- nen unverſoͤhnlichen Haß hatte. Als ich nun da war, ſo hatten die Siberier einen vortrefflichen Mann im Vorſchlag, den ſie nicht ſo ſehr wegen ſeiner Rechtglaͤubigkeit, als vielmehr wegen ſeinen vortrefflichen Gaben, zum Koͤnig machen wollten. Nur er hatte hoch in die Hoͤhe ſtehende Ohren und auch herabhan- gende Ohrlappen, er trug alſo in dem Fall auf beiden Schul- tern; das wollte zwar vielen nicht gefallen, doch man waͤhlte ihn. Nun beſchloß der Reichsrath, daß der Koͤnig mit der wohlgeordneten hochohrigten Armee gegen den langohrigten Koͤ- nig zu Felde ziehen ſollte; das geſchah. Allein, was das einen Allarm gab! — Beide Koͤnige kamen ganz friedlich zuſammen, gaben ſich die Haͤnde und hießen ſich Bruͤder. Alſofort ſetzte man den Koͤnig mit den Zwitterohren wieder ab und ſchnitt ihm die Ohren ganz weg, nun konnt’ er laufen.“
Der Buͤrgermeiſter Scultetus nahm ſeine lange Pfeife aus dem Mund und ſagte: der Herr Gayet iſt doch weit in der Welt umher geweſen. Ja wohl! ſagte ein Anderer, aber ich glaube, er gibt uns einen Stich; er will damit ſagen, wir waͤren alle zuſammen Eſel. Schoͤffe Keilhof aber lachte, blinkte Herrn Gayet heimlich an und ſagte ihm ins Ohr: die Narren verſtehen nicht, daß Sie den Paſtor und ſein Conſiſiorium
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an: „Hoͤrt, Ihr Nachbarn, ich will Euch was erzaͤhlen: Als
ich noch mit dem Kaſten auf dem Ruͤcken laͤngs die Thuͤren
ging und Huͤte feil trug, ſo kam ich auch von ungefaͤhr einmal
ins Koͤnigreich Siberien, und zwar in die Hauptſtadt Emu-
gie; nun war der Koͤnig eben geſtorben und die Reichsſtaͤnde
wollten einen Andern waͤhlen. Nun war aber ein Umſtand da-
bei, worauf Alles ankam: das Reich Kreuz-Spinn-Land
graͤnzt an Siberien, und beide Staaten haben ſich ſeit der
Suͤndfluth her immer in den Haaren gelegen, blos aus der Ur-
ſache: Die Siberier haben lange in die Hoͤhe ſtehende Ohren,
wie ein Eſel, und die Kreuz-Spinn-Laͤnder haben Ohr-
lappen, die bis auf die Schulter hangen. Nun war von jeher
Streit unter beiden Voͤlkern; Jedes wollte behaupten, Adam
haͤtte Ohren gehabt wie ſie. Deßwegen mußte in beiden Laͤn-
dern immer ein rechtglaͤubiger Koͤnig erwaͤhlt werden; das beſte
Zeichen davon war, wenn Jemand gegen die andere Nation ei-
nen unverſoͤhnlichen Haß hatte. Als ich nun da war, ſo hatten
die Siberier einen vortrefflichen Mann im Vorſchlag, den ſie
nicht ſo ſehr wegen ſeiner Rechtglaͤubigkeit, als vielmehr wegen
ſeinen vortrefflichen Gaben, zum Koͤnig machen wollten. Nur
er hatte hoch in die Hoͤhe ſtehende Ohren und auch herabhan-
gende Ohrlappen, er trug alſo in dem Fall auf beiden Schul-
tern; das wollte zwar vielen nicht gefallen, doch man waͤhlte
ihn. Nun beſchloß der Reichsrath, daß der Koͤnig mit der
wohlgeordneten hochohrigten Armee gegen den langohrigten Koͤ-
nig zu Felde ziehen ſollte; das geſchah. Allein, was das einen
Allarm gab! — Beide Koͤnige kamen ganz friedlich zuſammen,
gaben ſich die Haͤnde und hießen ſich Bruͤder. Alſofort ſetzte
man den Koͤnig mit den Zwitterohren wieder ab und ſchnitt ihm
die Ohren ganz weg, nun konnt’ er laufen.“
Der Buͤrgermeiſter Scultetus nahm ſeine lange Pfeife
aus dem Mund und ſagte: der Herr Gayet iſt doch weit in
der Welt umher geweſen. Ja wohl! ſagte ein Anderer, aber
ich glaube, er gibt uns einen Stich; er will damit ſagen, wir
waͤren alle zuſammen Eſel. Schoͤffe Keilhof aber lachte,
blinkte Herrn Gayet heimlich an und ſagte ihm ins Ohr: die
Narren verſtehen nicht, daß Sie den Paſtor und ſein Conſiſiorium
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/196>, abgerufen am 09.11.2024.
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