ihn, daß er schlafen konnte, aber wenn er des Morgens er- wacht, und die Sonne auf sein Bett schien, so erschrack er, und war wieder starr und kalt; die schöne Sonne kam ihm nicht anders vor, als Gottes Zornauge, das wie eine flam- mende Welt Blitz und Donner auf ihn herabzustürzen drohte. Den ganzen Tag über schien ihm der Himmel roth zu seyn, und er fuhr zusammen vor dem Anblick eines jeden lebendi- gen Menschen, als ob er ein Gespenst wäre; hingegen in einer finstern Gruft zwischen Leichen und Schreckbildern zu wachen, das wär' ihm eine Freude und Erquickung gewesen.
Zwischen den Feiertagen fand er endlich einmal Zeit, seine Kleider durch und durch auszubessern, seinen Rock kehrte er um, und machte alles, so gut er konnte, zurecht. Die Ar- muth lehrt erfinden, er bedeckte seine Mängel, so daß er doch wenigstens ein paarmal, ohne sich zu schämen, nach Holz- heim in die Kirche gehen durfte; er war aber so blaß und so hager geworden, daß er die Zähne mit den Lippen nicht mehr bedecken konnte, seine Gesichtslineamente waren vor Gram schrecklich verzerrt, die Augenbraunen waren hoch in die Höhe gestiegen, und seine Stirn voller Runzeln, die Augen lagen wild, tief und finster im Haupt, die Oberlippe hatte sich mit den Nasenflügeln empor gezogen, und die Winkel des Mun- des sanken mit den häutigen Wangen herab; ein Jeder, der ihn sah, betrachtete ihn starr, und blickte blöd von ihm ab.
Des Sonntags nach dem Neujahr ging er in die Kirche. Unter Allen war Keiner, der ihn ansprach, als nur allein der Herr Pastor Brück; dieser hatte ihn von der Kanzel beo- bachtet, und so wie die Kirche aus war, eilte der edle Mann heraus, suchte ihn unter den Leuten, die da vor der Thüre standen, auf, griff ihn am Arm und sagte: Gehen Sie mit mir, Herr Präceptor! Sie sollen mit mir speisen, und diesen Nachmittag bei mir bleiben. Es läßt sich nicht aussprechen, welche Wirkung diese leutseligen Worte auf sein Gemüth hat- ten, er konnte sich kaum enthalten, laut zu weinen und zu heulen; die Thränen floßen ihm stromweise die Wangen herun- ter, er konnte dem Prediger nichts antworten, und dieser fragte ihn auch weiter nichts, sprach auch nichts mit ihm,
ihn, daß er ſchlafen konnte, aber wenn er des Morgens er- wacht, und die Sonne auf ſein Bett ſchien, ſo erſchrack er, und war wieder ſtarr und kalt; die ſchoͤne Sonne kam ihm nicht anders vor, als Gottes Zornauge, das wie eine flam- mende Welt Blitz und Donner auf ihn herabzuſtuͤrzen drohte. Den ganzen Tag uͤber ſchien ihm der Himmel roth zu ſeyn, und er fuhr zuſammen vor dem Anblick eines jeden lebendi- gen Menſchen, als ob er ein Geſpenſt waͤre; hingegen in einer finſtern Gruft zwiſchen Leichen und Schreckbildern zu wachen, das waͤr’ ihm eine Freude und Erquickung geweſen.
Zwiſchen den Feiertagen fand er endlich einmal Zeit, ſeine Kleider durch und durch auszubeſſern, ſeinen Rock kehrte er um, und machte alles, ſo gut er konnte, zurecht. Die Ar- muth lehrt erfinden, er bedeckte ſeine Maͤngel, ſo daß er doch wenigſtens ein paarmal, ohne ſich zu ſchaͤmen, nach Holz- heim in die Kirche gehen durfte; er war aber ſo blaß und ſo hager geworden, daß er die Zaͤhne mit den Lippen nicht mehr bedecken konnte, ſeine Geſichtslineamente waren vor Gram ſchrecklich verzerrt, die Augenbraunen waren hoch in die Hoͤhe geſtiegen, und ſeine Stirn voller Runzeln, die Augen lagen wild, tief und finſter im Haupt, die Oberlippe hatte ſich mit den Naſenfluͤgeln empor gezogen, und die Winkel des Mun- des ſanken mit den haͤutigen Wangen herab; ein Jeder, der ihn ſah, betrachtete ihn ſtarr, und blickte bloͤd von ihm ab.
Des Sonntags nach dem Neujahr ging er in die Kirche. Unter Allen war Keiner, der ihn anſprach, als nur allein der Herr Paſtor Bruͤck; dieſer hatte ihn von der Kanzel beo- bachtet, und ſo wie die Kirche aus war, eilte der edle Mann heraus, ſuchte ihn unter den Leuten, die da vor der Thuͤre ſtanden, auf, griff ihn am Arm und ſagte: Gehen Sie mit mir, Herr Praͤceptor! Sie ſollen mit mir ſpeiſen, und dieſen Nachmittag bei mir bleiben. Es laͤßt ſich nicht ausſprechen, welche Wirkung dieſe leutſeligen Worte auf ſein Gemuͤth hat- ten, er konnte ſich kaum enthalten, laut zu weinen und zu heulen; die Thraͤnen floßen ihm ſtromweiſe die Wangen herun- ter, er konnte dem Prediger nichts antworten, und dieſer fragte ihn auch weiter nichts, ſprach auch nichts mit ihm,
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ihn, daß er ſchlafen konnte, aber wenn er des Morgens er-
wacht, und die Sonne auf ſein Bett ſchien, ſo erſchrack er,
und war wieder ſtarr und kalt; die ſchoͤne Sonne kam ihm
nicht anders vor, als Gottes Zornauge, das wie eine flam-
mende Welt Blitz und Donner auf ihn herabzuſtuͤrzen drohte.
Den ganzen Tag uͤber ſchien ihm der Himmel roth zu ſeyn,
und er fuhr zuſammen vor dem Anblick eines jeden lebendi-
gen Menſchen, als ob er ein Geſpenſt waͤre; hingegen in einer
finſtern Gruft zwiſchen Leichen und Schreckbildern zu wachen,
das waͤr’ ihm eine Freude und Erquickung geweſen.
Zwiſchen den Feiertagen fand er endlich einmal Zeit, ſeine
Kleider durch und durch auszubeſſern, ſeinen Rock kehrte er
um, und machte alles, ſo gut er konnte, zurecht. Die Ar-
muth lehrt erfinden, er bedeckte ſeine Maͤngel, ſo daß er doch
wenigſtens ein paarmal, ohne ſich zu ſchaͤmen, nach Holz-
heim in die Kirche gehen durfte; er war aber ſo blaß und
ſo hager geworden, daß er die Zaͤhne mit den Lippen nicht
mehr bedecken konnte, ſeine Geſichtslineamente waren vor Gram
ſchrecklich verzerrt, die Augenbraunen waren hoch in die Hoͤhe
geſtiegen, und ſeine Stirn voller Runzeln, die Augen lagen
wild, tief und finſter im Haupt, die Oberlippe hatte ſich mit
den Naſenfluͤgeln empor gezogen, und die Winkel des Mun-
des ſanken mit den haͤutigen Wangen herab; ein Jeder, der
ihn ſah, betrachtete ihn ſtarr, und blickte bloͤd von ihm ab.
Des Sonntags nach dem Neujahr ging er in die Kirche.
Unter Allen war Keiner, der ihn anſprach, als nur allein der
Herr Paſtor Bruͤck; dieſer hatte ihn von der Kanzel beo-
bachtet, und ſo wie die Kirche aus war, eilte der edle Mann
heraus, ſuchte ihn unter den Leuten, die da vor der Thuͤre
ſtanden, auf, griff ihn am Arm und ſagte: Gehen Sie mit
mir, Herr Praͤceptor! Sie ſollen mit mir ſpeiſen, und dieſen
Nachmittag bei mir bleiben. Es laͤßt ſich nicht ausſprechen,
welche Wirkung dieſe leutſeligen Worte auf ſein Gemuͤth hat-
ten, er konnte ſich kaum enthalten, laut zu weinen und zu
heulen; die Thraͤnen floßen ihm ſtromweiſe die Wangen herun-
ter, er konnte dem Prediger nichts antworten, und dieſer
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/227>, abgerufen am 26.11.2024.
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