sondern führte ihn nur fort in sein Haus; die Frau Pasto- rin und die Kinder entsetzten sich vor ihm, und bedauerten ihn von Herzen.
Sobald sich nun Herr Brück ausgezogen hatte, setzte man sich zu Tisch. Alsofort fing der Pastor an, von seinem Zu- stand zu reden, und zwar mit solcher Kraft und Nachdruck, daß Stilling nichts that, als laut weinen, und Alle, die mit zu Tisch saßen, weinten mit. Dieser vortreffliche Mann las in seiner Seele, was ihm fehlte; er behauptete mit Nach- druck, daß alle seine Leiden, die er von jeher gehabt habe, lauter Läuterungsfeuer gewesen seyen, wodurch ihn die ewige Liebe von seinen Unarten fegen und ihn zu etwas Sonderba- rem geschickt machen wolle; auch gegenwärtiger schwerer Zu- stand sey um dieser Ursache willen über ihn gekommen, und es werde nicht lange mehr dauern, so würde ihn der Herr gnädig erlösen; und was dergleichen Tröstungen mehr waren, die die brennende Seele des guten Stillings wie ein küh- ler Than erquickten. Allein dieser Trost war von kurzer Dauer, er mußte am Abend doch wieder in seinen Kerker, und nun war der Schmerz auf diese Erquickung wieder um so viel un- leidlicher.
Diese erschrecklichen Leiden dauerten von Martini bis den 12. April 1762, und also neunzehn bis zwanzig Wochen. Dieser Tag war also der frohe Zeitpunkt seiner Erlösung. Des Morgens früh stand er noch mit eben den schweren Lei- den auf, mit denen er sich schlafen gelegt hatte; er ging wie gewöhnlich herunter an den Tisch, trank Caffee, und darauf in die Schule; um neun Uhr, als er in seinem Kerker am Tisch saß, und ganz in sich selbst gekehrt das Feuer seiner Leiden aushielt, fühlte er plötzlich eine gänzliche Veränderung seines Zustandes, alle seine Schwermuth und Schmerzen wa- ren gänzlich weg, er empfand eine solche Wonne und tiefen Frieden in seiner Seele, daß er vor Freude und Seligkeit nicht zu bleiben wußte. Er besann sich und wurde gewahr, daß er Willens war, wegzugehen; dazu hatte er sich entschlossen, ohne es zu wissen, so in demselbigen Augenblick stand er auf, ging hinauf auf seine Schlafkammer, und dachte nach; wie viel
ſondern fuͤhrte ihn nur fort in ſein Haus; die Frau Paſto- rin und die Kinder entſetzten ſich vor ihm, und bedauerten ihn von Herzen.
Sobald ſich nun Herr Bruͤck ausgezogen hatte, ſetzte man ſich zu Tiſch. Alſofort fing der Paſtor an, von ſeinem Zu- ſtand zu reden, und zwar mit ſolcher Kraft und Nachdruck, daß Stilling nichts that, als laut weinen, und Alle, die mit zu Tiſch ſaßen, weinten mit. Dieſer vortreffliche Mann las in ſeiner Seele, was ihm fehlte; er behauptete mit Nach- druck, daß alle ſeine Leiden, die er von jeher gehabt habe, lauter Laͤuterungsfeuer geweſen ſeyen, wodurch ihn die ewige Liebe von ſeinen Unarten fegen und ihn zu etwas Sonderba- rem geſchickt machen wolle; auch gegenwaͤrtiger ſchwerer Zu- ſtand ſey um dieſer Urſache willen uͤber ihn gekommen, und es werde nicht lange mehr dauern, ſo wuͤrde ihn der Herr gnaͤdig erloͤſen; und was dergleichen Troͤſtungen mehr waren, die die brennende Seele des guten Stillings wie ein kuͤh- ler Than erquickten. Allein dieſer Troſt war von kurzer Dauer, er mußte am Abend doch wieder in ſeinen Kerker, und nun war der Schmerz auf dieſe Erquickung wieder um ſo viel un- leidlicher.
Dieſe erſchrecklichen Leiden dauerten von Martini bis den 12. April 1762, und alſo neunzehn bis zwanzig Wochen. Dieſer Tag war alſo der frohe Zeitpunkt ſeiner Erloͤſung. Des Morgens fruͤh ſtand er noch mit eben den ſchweren Lei- den auf, mit denen er ſich ſchlafen gelegt hatte; er ging wie gewoͤhnlich herunter an den Tiſch, trank Caffee, und darauf in die Schule; um neun Uhr, als er in ſeinem Kerker am Tiſch ſaß, und ganz in ſich ſelbſt gekehrt das Feuer ſeiner Leiden aushielt, fuͤhlte er ploͤtzlich eine gaͤnzliche Veraͤnderung ſeines Zuſtandes, alle ſeine Schwermuth und Schmerzen wa- ren gaͤnzlich weg, er empfand eine ſolche Wonne und tiefen Frieden in ſeiner Seele, daß er vor Freude und Seligkeit nicht zu bleiben wußte. Er beſann ſich und wurde gewahr, daß er Willens war, wegzugehen; dazu hatte er ſich entſchloſſen, ohne es zu wiſſen, ſo in demſelbigen Augenblick ſtand er auf, ging hinauf auf ſeine Schlafkammer, und dachte nach; wie viel
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ſondern fuͤhrte ihn nur fort in ſein Haus; die Frau Paſto-
rin und die Kinder entſetzten ſich vor ihm, und bedauerten
ihn von Herzen.
Sobald ſich nun Herr Bruͤck ausgezogen hatte, ſetzte man
ſich zu Tiſch. Alſofort fing der Paſtor an, von ſeinem Zu-
ſtand zu reden, und zwar mit ſolcher Kraft und Nachdruck,
daß Stilling nichts that, als laut weinen, und Alle, die
mit zu Tiſch ſaßen, weinten mit. Dieſer vortreffliche Mann
las in ſeiner Seele, was ihm fehlte; er behauptete mit Nach-
druck, daß alle ſeine Leiden, die er von jeher gehabt habe,
lauter Laͤuterungsfeuer geweſen ſeyen, wodurch ihn die ewige
Liebe von ſeinen Unarten fegen und ihn zu etwas Sonderba-
rem geſchickt machen wolle; auch gegenwaͤrtiger ſchwerer Zu-
ſtand ſey um dieſer Urſache willen uͤber ihn gekommen, und
es werde nicht lange mehr dauern, ſo wuͤrde ihn der Herr
gnaͤdig erloͤſen; und was dergleichen Troͤſtungen mehr waren,
die die brennende Seele des guten Stillings wie ein kuͤh-
ler Than erquickten. Allein dieſer Troſt war von kurzer Dauer,
er mußte am Abend doch wieder in ſeinen Kerker, und nun
war der Schmerz auf dieſe Erquickung wieder um ſo viel un-
leidlicher.
Dieſe erſchrecklichen Leiden dauerten von Martini bis den
12. April 1762, und alſo neunzehn bis zwanzig Wochen.
Dieſer Tag war alſo der frohe Zeitpunkt ſeiner Erloͤſung.
Des Morgens fruͤh ſtand er noch mit eben den ſchweren Lei-
den auf, mit denen er ſich ſchlafen gelegt hatte; er ging wie
gewoͤhnlich herunter an den Tiſch, trank Caffee, und darauf
in die Schule; um neun Uhr, als er in ſeinem Kerker am
Tiſch ſaß, und ganz in ſich ſelbſt gekehrt das Feuer ſeiner
Leiden aushielt, fuͤhlte er ploͤtzlich eine gaͤnzliche Veraͤnderung
ſeines Zuſtandes, alle ſeine Schwermuth und Schmerzen wa-
ren gaͤnzlich weg, er empfand eine ſolche Wonne und tiefen
Frieden in ſeiner Seele, daß er vor Freude und Seligkeit nicht
zu bleiben wußte. Er beſann ſich und wurde gewahr, daß er
Willens war, wegzugehen; dazu hatte er ſich entſchloſſen,
ohne es zu wiſſen, ſo in demſelbigen Augenblick ſtand er auf,
ging hinauf auf ſeine Schlafkammer, und dachte nach; wie viel
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/228>, abgerufen am 26.11.2024.
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