Stilling reiste nun zu Fuß fort, er hatte noch acht Stunden bis Rasenheim. Unterwegens besann er sich auf den Namen des Fremden, er war ihm bekannt, und doch wußte er nicht, wo er mit ihm hin sollte. Nach acht Tagen las er in der Lippstädtischen Zeitung folgenden Artikel:
Cölln, den 19. Mai.
"Der Herr von *** Ambassadeur des **** Hofes zu **** ist in größter Geheim heute hier durch nach Holland gereist, um wichtige Angelegenheiten zu besorgen."
Des zweiten Pfingsttags also am Nachmittag kam Stil- ling zu Rasenheim an. Er wurde mit tausend Freuden- thränen empfangen. Christine aber war sich ihrer selbst nicht bewußt, denn sie redete irre, daher als Stilling zu ihr kam, stieß sie ihn weg, denn sie kannte ihn nicht. Er ging ein wenig auf ein anderes Zimmer, indessen erholte sie sich, und man brachte ihr bei, daß ihr Bräutigam angekom- men sey. Nun konnte sie sich nicht mehr halten. Man rief ihn; er kam. Hier ging nun die zärtlichste Bewillkommung vor, die man sich nur denken kann, aber sie kam Christi- nen theuer zu stehen; sie gerieth in die heftigsten Convulsio- nen, so daß Stilling in äußerster Traurigkeit, drei Tage und drei Nächte, an ihrem Bette ihren letzten Stoß abwartete. Doch gegen alles Vermuthen erholte sie sich wieder, und bin- nen vierzehn Tagen war sie ziemlich besser, so daß sie zu- weilen am Tage etwas aufstand.
Nun wurde diese Verlöbniß überall bekannt. Die besten Freunde riethen Friedenberg, Beide copuliren zu lassen. Dieses wurde bewilliget, und Stilling, nach vorhergegan- genen gewöhnlichen Formalitäten 1771, den 17. Junius am Bette mit seiner Christine zum Ehestande eingesegnet.
In Schönenthal wohnte ein vortrefflicher Arzt, ein Mann von großer Gelehrsamkeit und Wirksamkeit, noch im- mer mehr und mehr die Natur zu studiren, dabei war er ohne Neid, und hatte das beste Herz von der Welt. Dieser theure Mann hatte Stillings Geschichte zum Theil von seinem Freunde, Herrn Troost, gehört. Stilling hatte ihn auch bei dieser Gelegenheit verschiedenemal besucht, und
Stilling reiste nun zu Fuß fort, er hatte noch acht Stunden bis Raſenheim. Unterwegens beſann er ſich auf den Namen des Fremden, er war ihm bekannt, und doch wußte er nicht, wo er mit ihm hin ſollte. Nach acht Tagen las er in der Lippſtaͤdtiſchen Zeitung folgenden Artikel:
Coͤlln, den 19. Mai.
„Der Herr von *** Ambaſſadeur des **** Hofes zu **** iſt in groͤßter Geheim heute hier durch nach Holland gereist, um wichtige Angelegenheiten zu beſorgen.“
Des zweiten Pfingſttags alſo am Nachmittag kam Stil- ling zu Raſenheim an. Er wurde mit tauſend Freuden- thraͤnen empfangen. Chriſtine aber war ſich ihrer ſelbſt nicht bewußt, denn ſie redete irre, daher als Stilling zu ihr kam, ſtieß ſie ihn weg, denn ſie kannte ihn nicht. Er ging ein wenig auf ein anderes Zimmer, indeſſen erholte ſie ſich, und man brachte ihr bei, daß ihr Braͤutigam angekom- men ſey. Nun konnte ſie ſich nicht mehr halten. Man rief ihn; er kam. Hier ging nun die zaͤrtlichſte Bewillkommung vor, die man ſich nur denken kann, aber ſie kam Chriſti- nen theuer zu ſtehen; ſie gerieth in die heftigſten Convulſio- nen, ſo daß Stilling in aͤußerſter Traurigkeit, drei Tage und drei Naͤchte, an ihrem Bette ihren letzten Stoß abwartete. Doch gegen alles Vermuthen erholte ſie ſich wieder, und bin- nen vierzehn Tagen war ſie ziemlich beſſer, ſo daß ſie zu- weilen am Tage etwas aufſtand.
Nun wurde dieſe Verloͤbniß uͤberall bekannt. Die beſten Freunde riethen Friedenberg, Beide copuliren zu laſſen. Dieſes wurde bewilliget, und Stilling, nach vorhergegan- genen gewoͤhnlichen Formalitaͤten 1771, den 17. Junius am Bette mit ſeiner Chriſtine zum Eheſtande eingeſegnet.
In Schoͤnenthal wohnte ein vortrefflicher Arzt, ein Mann von großer Gelehrſamkeit und Wirkſamkeit, noch im- mer mehr und mehr die Natur zu ſtudiren, dabei war er ohne Neid, und hatte das beſte Herz von der Welt. Dieſer theure Mann hatte Stillings Geſchichte zum Theil von ſeinem Freunde, Herrn Trooſt, gehoͤrt. Stilling hatte ihn auch bei dieſer Gelegenheit verſchiedenemal beſucht, und
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Stilling reiste nun zu Fuß fort, er hatte noch acht
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wußte er nicht, wo er mit ihm hin ſollte. Nach acht Tagen
las er in der Lippſtaͤdtiſchen Zeitung folgenden Artikel:
Coͤlln, den 19. Mai.
„Der Herr von *** Ambaſſadeur des **** Hofes zu
**** iſt in groͤßter Geheim heute hier durch nach Holland
gereist, um wichtige Angelegenheiten zu beſorgen.“
Des zweiten Pfingſttags alſo am Nachmittag kam Stil-
ling zu Raſenheim an. Er wurde mit tauſend Freuden-
thraͤnen empfangen. Chriſtine aber war ſich ihrer ſelbſt
nicht bewußt, denn ſie redete irre, daher als Stilling zu
ihr kam, ſtieß ſie ihn weg, denn ſie kannte ihn nicht. Er
ging ein wenig auf ein anderes Zimmer, indeſſen erholte ſie
ſich, und man brachte ihr bei, daß ihr Braͤutigam angekom-
men ſey. Nun konnte ſie ſich nicht mehr halten. Man rief
ihn; er kam. Hier ging nun die zaͤrtlichſte Bewillkommung
vor, die man ſich nur denken kann, aber ſie kam Chriſti-
nen theuer zu ſtehen; ſie gerieth in die heftigſten Convulſio-
nen, ſo daß Stilling in aͤußerſter Traurigkeit, drei Tage
und drei Naͤchte, an ihrem Bette ihren letzten Stoß abwartete.
Doch gegen alles Vermuthen erholte ſie ſich wieder, und bin-
nen vierzehn Tagen war ſie ziemlich beſſer, ſo daß ſie zu-
weilen am Tage etwas aufſtand.
Nun wurde dieſe Verloͤbniß uͤberall bekannt. Die beſten
Freunde riethen Friedenberg, Beide copuliren zu laſſen.
Dieſes wurde bewilliget, und Stilling, nach vorhergegan-
genen gewoͤhnlichen Formalitaͤten 1771, den 17. Junius am
Bette mit ſeiner Chriſtine zum Eheſtande eingeſegnet.
In Schoͤnenthal wohnte ein vortrefflicher Arzt, ein
Mann von großer Gelehrſamkeit und Wirkſamkeit, noch im-
mer mehr und mehr die Natur zu ſtudiren, dabei war er
ohne Neid, und hatte das beſte Herz von der Welt. Dieſer
theure Mann hatte Stillings Geſchichte zum Theil von
ſeinem Freunde, Herrn Trooſt, gehoͤrt. Stilling hatte
ihn auch bei dieſer Gelegenheit verſchiedenemal beſucht, und
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/296>, abgerufen am 23.11.2024.
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