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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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in seinem Berufe glücklich machen, erhielt seine Seele aufrecht
und in unermüdeter Thätigkeit. Aus diesem Grunde faßte er
schon im ersten Sommer den riesenmäßigen Entschluß, so lange
zu studiren und nachzudenken, bis er's in seinem Beruf zur mathe-
matischen Gewißheit gebracht hätte; er kam auch bei dieser
mühseligen Arbeit auf wichtige Spuren und er entdeckte viele
neue philosophische Wahrheiten; allein je weiter er forschte, desto
mehr fand er, daß er immer unglücklicher werden würde, je
mehr Grund und Boden er in seinem Beruf fände; denn er
sahe immer mehr ein, daß der Arzt sehr wenig thun, also auch
wenig verdienen könne; darüber wurde seine Hoffnung geschwächt,
die Zukunft vor seinen Augen dunkel, gerade wie ein Wanderer,
den auf unbekannten gefährlichen Wegen ein düsterer Nebel über-
fällt, so daß er keine zehn Schritte vor sich weg sehen kann.
Er warf sich also blindlings in die Vaterarme Gottes, hoffte,
wo nichts zu hoffen war, und pilgerte seinen Weg sehr schwer-
müthig fort.

Darf ich's sagen, Freunde! Leser! daß Stilling bei dem
allem ein glückseliger Mann war? -- Was ist denn Men-
schenbestimmung anders, als Vervollkommnung der Existenz,
um Glückseligkeit um sich her verbreiten zu können? -- Gott-
und Christusähnlichkeit ist das strahlende Ziel, das wie Mor-
genglanz dem Sterblichen von Jugend auf entgegen glänzt;
allein wo ist der Knabe, der Jüngling, der Mann, bei dem
Religion und Vernunft so viel Uebergewicht über die Sinn-
lichkeit haben, daß er nicht sein Leben hindurch im Genuß
verträumt, und seiner Bestimmung jenes erhabenen Ziels ver-
gißt? -- deßwegen ist es ein unschätzbares Glück, wenn ein
Mensch von Jugend auf zum völligen Vertrauen auf Gott
angewiesen und er dann auch von der Vorsehung in die Lage
gesetzt wird, dieses Vertrauen üben zu müssen; dadurch wird
seine Seele geschmeidig, demüthig, gelassen, duldend, ohne Un-
terlaß wirksam; sie kämpft durch Leiden und Meiden,
und überwindet Alles; kein Feind kann ihr wesentlich schaden,
denn er streitet gegen ihn mit den Waffen der Liebe, diesen
aber widersteht Niemand, ja sogar die Gottheit kann durch
Liebe überwunden werden! Das war Stillings Fall. Der

in ſeinem Berufe gluͤcklich machen, erhielt ſeine Seele aufrecht
und in unermuͤdeter Thaͤtigkeit. Aus dieſem Grunde faßte er
ſchon im erſten Sommer den rieſenmaͤßigen Entſchluß, ſo lange
zu ſtudiren und nachzudenken, bis er’s in ſeinem Beruf zur mathe-
matiſchen Gewißheit gebracht haͤtte; er kam auch bei dieſer
muͤhſeligen Arbeit auf wichtige Spuren und er entdeckte viele
neue philoſophiſche Wahrheiten; allein je weiter er forſchte, deſto
mehr fand er, daß er immer ungluͤcklicher werden wuͤrde, je
mehr Grund und Boden er in ſeinem Beruf faͤnde; denn er
ſahe immer mehr ein, daß der Arzt ſehr wenig thun, alſo auch
wenig verdienen koͤnne; daruͤber wurde ſeine Hoffnung geſchwaͤcht,
die Zukunft vor ſeinen Augen dunkel, gerade wie ein Wanderer,
den auf unbekannten gefaͤhrlichen Wegen ein duͤſterer Nebel uͤber-
faͤllt, ſo daß er keine zehn Schritte vor ſich weg ſehen kann.
Er warf ſich alſo blindlings in die Vaterarme Gottes, hoffte,
wo nichts zu hoffen war, und pilgerte ſeinen Weg ſehr ſchwer-
muͤthig fort.

Darf ich’s ſagen, Freunde! Leſer! daß Stilling bei dem
allem ein gluͤckſeliger Mann war? — Was iſt denn Men-
ſchenbeſtimmung anders, als Vervollkommnung der Exiſtenz,
um Gluͤckſeligkeit um ſich her verbreiten zu koͤnnen? — Gott-
und Chriſtusaͤhnlichkeit iſt das ſtrahlende Ziel, das wie Mor-
genglanz dem Sterblichen von Jugend auf entgegen glaͤnzt;
allein wo iſt der Knabe, der Juͤngling, der Mann, bei dem
Religion und Vernunft ſo viel Uebergewicht uͤber die Sinn-
lichkeit haben, daß er nicht ſein Leben hindurch im Genuß
vertraͤumt, und ſeiner Beſtimmung jenes erhabenen Ziels ver-
gißt? — deßwegen iſt es ein unſchaͤtzbares Gluͤck, wenn ein
Menſch von Jugend auf zum voͤlligen Vertrauen auf Gott
angewieſen und er dann auch von der Vorſehung in die Lage
geſetzt wird, dieſes Vertrauen uͤben zu muͤſſen; dadurch wird
ſeine Seele geſchmeidig, demuͤthig, gelaſſen, duldend, ohne Un-
terlaß wirkſam; ſie kaͤmpft durch Leiden und Meiden,
und uͤberwindet Alles; kein Feind kann ihr weſentlich ſchaden,
denn er ſtreitet gegen ihn mit den Waffen der Liebe, dieſen
aber widerſteht Niemand, ja ſogar die Gottheit kann durch
Liebe uͤberwunden werden! Das war Stillings Fall. Der

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[308/0316] in ſeinem Berufe gluͤcklich machen, erhielt ſeine Seele aufrecht und in unermuͤdeter Thaͤtigkeit. Aus dieſem Grunde faßte er ſchon im erſten Sommer den rieſenmaͤßigen Entſchluß, ſo lange zu ſtudiren und nachzudenken, bis er’s in ſeinem Beruf zur mathe- matiſchen Gewißheit gebracht haͤtte; er kam auch bei dieſer muͤhſeligen Arbeit auf wichtige Spuren und er entdeckte viele neue philoſophiſche Wahrheiten; allein je weiter er forſchte, deſto mehr fand er, daß er immer ungluͤcklicher werden wuͤrde, je mehr Grund und Boden er in ſeinem Beruf faͤnde; denn er ſahe immer mehr ein, daß der Arzt ſehr wenig thun, alſo auch wenig verdienen koͤnne; daruͤber wurde ſeine Hoffnung geſchwaͤcht, die Zukunft vor ſeinen Augen dunkel, gerade wie ein Wanderer, den auf unbekannten gefaͤhrlichen Wegen ein duͤſterer Nebel uͤber- faͤllt, ſo daß er keine zehn Schritte vor ſich weg ſehen kann. Er warf ſich alſo blindlings in die Vaterarme Gottes, hoffte, wo nichts zu hoffen war, und pilgerte ſeinen Weg ſehr ſchwer- muͤthig fort. Darf ich’s ſagen, Freunde! Leſer! daß Stilling bei dem allem ein gluͤckſeliger Mann war? — Was iſt denn Men- ſchenbeſtimmung anders, als Vervollkommnung der Exiſtenz, um Gluͤckſeligkeit um ſich her verbreiten zu koͤnnen? — Gott- und Chriſtusaͤhnlichkeit iſt das ſtrahlende Ziel, das wie Mor- genglanz dem Sterblichen von Jugend auf entgegen glaͤnzt; allein wo iſt der Knabe, der Juͤngling, der Mann, bei dem Religion und Vernunft ſo viel Uebergewicht uͤber die Sinn- lichkeit haben, daß er nicht ſein Leben hindurch im Genuß vertraͤumt, und ſeiner Beſtimmung jenes erhabenen Ziels ver- gißt? — deßwegen iſt es ein unſchaͤtzbares Gluͤck, wenn ein Menſch von Jugend auf zum voͤlligen Vertrauen auf Gott angewieſen und er dann auch von der Vorſehung in die Lage geſetzt wird, dieſes Vertrauen uͤben zu muͤſſen; dadurch wird ſeine Seele geſchmeidig, demuͤthig, gelaſſen, duldend, ohne Un- terlaß wirkſam; ſie kaͤmpft durch Leiden und Meiden, und uͤberwindet Alles; kein Feind kann ihr weſentlich ſchaden, denn er ſtreitet gegen ihn mit den Waffen der Liebe, dieſen aber widerſteht Niemand, ja ſogar die Gottheit kann durch Liebe uͤberwunden werden! Das war Stillings Fall. Der

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/316>, abgerufen am 22.11.2024.