Weise muß ihn also glücklich schätzen, ob sich gleich schwerlich Jemand in seine Lage wünschen wird.
Gegen den Herbst des 1772sten Jahres kamen die beiden vortrefflichen Brüder Vollkraft von Rüsselstein nach Schönenthal; der älteste war Hofkammerrath und ein edler, rechtschaffener, vortrefflicher Mann, dieser hatte eine Kommission daselbst, welche ihn etliche Wochen aufhielt; sein Bruder, ein empfindsamer, zärtlicher und bekannter Dichter, und zugleich ein Mann von der besten, edelsten und rechtschaffensten Gesin- nung, begleitete ihn, um ihm an einem Ort, wo sogar keine Seelennahrung für ihn war, Gesellschaft zu leisten. Herr Dok- tor Dinkler war mit diesen beiden edlen Männern sehr wohl bekannt; beim ersten Besuch schilderte er ihnen Stillingen so vortheilhaft, daß sie begierig wurden, ihn kennen zu lernen; Dinkler gab ihm einen Wink und er eilte, sie zu besuchen. Dieß geschah zum Erstenmal an einem Abend; der Hofkam- merrath ließ sich in ein Gespräch mit ihm ein, und wurde dergestalt von ihm eingenommen, daß er ihn küßte und um- armte, und ihm seine ganze Liebe und Freundschaft schenkte; eben das war auch der Fall mit dem andern Bruder. Beide verstanden ihn, und er verstand sie, die Herzen floßen in ein- ander über, es entstanden Seelengespräche, die nicht Jeder versteht.
Stillings Augen waren bei dieser Gelegenheit immer vol- ler Thränen, sein tiefer Kummer machte sich Luft, aber von seiner Lage entdeckte er nie Etwas, denn er wußte, wie demü- thigend es sey, gegen Freunde sich hülfsbedürftig zu erklären; er trug also seine Bürde allein, welche aber doch dadurch sehr erleichtert wurde, daß er nun einmal Menschen fand, die ihn verstanden und sich ihm mittheilten. Dazu kam noch eins: Stilling war von geringem Herkommen, er war von Ju- gend auf gewohnt, obrigkeitliche Personen, oder auch reiche, vornehme Leute, als Wesen von einer höhern Art anzusehen, daher war er immer in ihrer Gegenwart schüchtern und zu- rückhaltend; dieß wurde ihm dann für Dummheit, Unwissen- heit und Ankleben seines niedrigen Herkommens ausgelegt; mit Einem Wort, von Leuten von gewöhnlicher Art, die keine feine
Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 21
Weiſe muß ihn alſo gluͤcklich ſchaͤtzen, ob ſich gleich ſchwerlich Jemand in ſeine Lage wuͤnſchen wird.
Gegen den Herbſt des 1772ſten Jahres kamen die beiden vortrefflichen Bruͤder Vollkraft von Ruͤſſelſtein nach Schoͤnenthal; der aͤlteſte war Hofkammerrath und ein edler, rechtſchaffener, vortrefflicher Mann, dieſer hatte eine Kommiſſion daſelbſt, welche ihn etliche Wochen aufhielt; ſein Bruder, ein empfindſamer, zaͤrtlicher und bekannter Dichter, und zugleich ein Mann von der beſten, edelſten und rechtſchaffenſten Geſin- nung, begleitete ihn, um ihm an einem Ort, wo ſogar keine Seelennahrung fuͤr ihn war, Geſellſchaft zu leiſten. Herr Dok- tor Dinkler war mit dieſen beiden edlen Maͤnnern ſehr wohl bekannt; beim erſten Beſuch ſchilderte er ihnen Stillingen ſo vortheilhaft, daß ſie begierig wurden, ihn kennen zu lernen; Dinkler gab ihm einen Wink und er eilte, ſie zu beſuchen. Dieß geſchah zum Erſtenmal an einem Abend; der Hofkam- merrath ließ ſich in ein Geſpraͤch mit ihm ein, und wurde dergeſtalt von ihm eingenommen, daß er ihn kuͤßte und um- armte, und ihm ſeine ganze Liebe und Freundſchaft ſchenkte; eben das war auch der Fall mit dem andern Bruder. Beide verſtanden ihn, und er verſtand ſie, die Herzen floßen in ein- ander uͤber, es entſtanden Seelengeſpraͤche, die nicht Jeder verſteht.
Stillings Augen waren bei dieſer Gelegenheit immer vol- ler Thraͤnen, ſein tiefer Kummer machte ſich Luft, aber von ſeiner Lage entdeckte er nie Etwas, denn er wußte, wie demuͤ- thigend es ſey, gegen Freunde ſich huͤlfsbeduͤrftig zu erklaͤren; er trug alſo ſeine Buͤrde allein, welche aber doch dadurch ſehr erleichtert wurde, daß er nun einmal Menſchen fand, die ihn verſtanden und ſich ihm mittheilten. Dazu kam noch eins: Stilling war von geringem Herkommen, er war von Ju- gend auf gewohnt, obrigkeitliche Perſonen, oder auch reiche, vornehme Leute, als Weſen von einer hoͤhern Art anzuſehen, daher war er immer in ihrer Gegenwart ſchuͤchtern und zu- ruͤckhaltend; dieß wurde ihm dann fuͤr Dummheit, Unwiſſen- heit und Ankleben ſeines niedrigen Herkommens ausgelegt; mit Einem Wort, von Leuten von gewoͤhnlicher Art, die keine feine
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 21
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vortrefflichen Bruͤder Vollkraft von Ruͤſſelſtein nach
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rechtſchaffener, vortrefflicher Mann, dieſer hatte eine Kommiſſion
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empfindſamer, zaͤrtlicher und bekannter Dichter, und zugleich
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Seelennahrung fuͤr ihn war, Geſellſchaft zu leiſten. Herr Dok-
tor Dinkler war mit dieſen beiden edlen Maͤnnern ſehr wohl
bekannt; beim erſten Beſuch ſchilderte er ihnen Stillingen
ſo vortheilhaft, daß ſie begierig wurden, ihn kennen zu lernen;
Dinkler gab ihm einen Wink und er eilte, ſie zu beſuchen.
Dieß geſchah zum Erſtenmal an einem Abend; der Hofkam-
merrath ließ ſich in ein Geſpraͤch mit ihm ein, und wurde
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armte, und ihm ſeine ganze Liebe und Freundſchaft ſchenkte;
eben das war auch der Fall mit dem andern Bruder. Beide
verſtanden ihn, und er verſtand ſie, die Herzen floßen in ein-
ander uͤber, es entſtanden Seelengeſpraͤche, die nicht Jeder
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Stillings Augen waren bei dieſer Gelegenheit immer vol-
ler Thraͤnen, ſein tiefer Kummer machte ſich Luft, aber von
ſeiner Lage entdeckte er nie Etwas, denn er wußte, wie demuͤ-
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er trug alſo ſeine Buͤrde allein, welche aber doch dadurch ſehr
erleichtert wurde, daß er nun einmal Menſchen fand, die ihn
verſtanden und ſich ihm mittheilten. Dazu kam noch eins:
Stilling war von geringem Herkommen, er war von Ju-
gend auf gewohnt, obrigkeitliche Perſonen, oder auch reiche,
vornehme Leute, als Weſen von einer hoͤhern Art anzuſehen,
daher war er immer in ihrer Gegenwart ſchuͤchtern und zu-
ruͤckhaltend; dieß wurde ihm dann fuͤr Dummheit, Unwiſſen-
heit und Ankleben ſeines niedrigen Herkommens ausgelegt; mit
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/317>, abgerufen am 22.11.2024.
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