Lage und seine Abhängigkeit von diesem schrecklichen Manne, er sank also zurück auf einen Stuhl, und weinte wie ein Kind; dies diente nun zu weiter nichts, als daß er desto mehr ge- höhnt wurde; er stand also auf und ging fort. Damit man nun im Vollkraft'schen Hause seinen Kummer nicht zu sehr merken möchte, so spazirte er eine Weile auf dem Wall herum, dann ging er ins Haus, und schien munterer, als er war. Die Ursache, warum er Herrn Vollkraft nicht Alles sagte und klagte, lag in seiner Natur; denn so offenherzig er in allen Glücksfällen war, so sehr verschwieg er Alles, was er zu leiden hatte. Der Grund dazu war ein hoher Grad von Selbstliebe und Schonung seiner Freunde. Gewissen Leu- ten aber, die von dergleichen Führungen Erfahrung hatten, konnte er Alles sagen -- Alles entdecken; diese Erscheinung aber hatte noch einen tiefern Grund, den er erst lange nach- her bemerkt hat: vernünftige, scharfsichtige Leute konnten nicht so gerade Alles, wie er, für göttliche Führung halten; daran zweifelte Niemand, daß ihn die Vorsehung besonders und zu großen Zwecken führe; ob aber nicht auch bei seiner Heirath, bei allerhand Schicksalen und Bestimmungen viel Menschliches mit untergelaufen sey? das war eine andere Frage, die jeder philosophische Kopf mit einem lauten Ja beantwortete; das konnte nun Stilling damals durchaus nicht ertragen, er glaubte es besser zu wissen, und eigentlich darum schwieg er. Der Verfolg dieser Geschichte wird's zeigen, in wie fern jene Leute Recht oder Unrecht hatten. Doch ich lenke wieder ein auf meinem Wege.
Das Medizinal-Kollegium setzte nun die Termine zum Exa- men in der Geburtshülfe und zur Entscheidung wegen der Ent- bindung jener Schönenthaler Frau an. Im Examen wur- den ihm die verfänglichsten Fragen vorgelegt, er bestand aber dem allen ungeachtet wohl; nun wurde auch die Maschine mit der Puppe gebracht, diese sollte er nun herausziehen, aber sie wurde hinter der Gardine festgehalten, so, daß es unmöglich war, sie zu bekommen; Stilling sagte das laut, aber er wurde ausgelacht, und so bestand er nicht im Examen. Es wurde also dekredirt: er sey zwar in der Theorie ziem-
Lage und ſeine Abhaͤngigkeit von dieſem ſchrecklichen Manne, er ſank alſo zuruͤck auf einen Stuhl, und weinte wie ein Kind; dies diente nun zu weiter nichts, als daß er deſto mehr ge- hoͤhnt wurde; er ſtand alſo auf und ging fort. Damit man nun im Vollkraft’ſchen Hauſe ſeinen Kummer nicht zu ſehr merken moͤchte, ſo ſpazirte er eine Weile auf dem Wall herum, dann ging er ins Haus, und ſchien munterer, als er war. Die Urſache, warum er Herrn Vollkraft nicht Alles ſagte und klagte, lag in ſeiner Natur; denn ſo offenherzig er in allen Gluͤcksfaͤllen war, ſo ſehr verſchwieg er Alles, was er zu leiden hatte. Der Grund dazu war ein hoher Grad von Selbſtliebe und Schonung ſeiner Freunde. Gewiſſen Leu- ten aber, die von dergleichen Fuͤhrungen Erfahrung hatten, konnte er Alles ſagen — Alles entdecken; dieſe Erſcheinung aber hatte noch einen tiefern Grund, den er erſt lange nach- her bemerkt hat: vernuͤnftige, ſcharfſichtige Leute konnten nicht ſo gerade Alles, wie er, fuͤr goͤttliche Fuͤhrung halten; daran zweifelte Niemand, daß ihn die Vorſehung beſonders und zu großen Zwecken fuͤhre; ob aber nicht auch bei ſeiner Heirath, bei allerhand Schickſalen und Beſtimmungen viel Menſchliches mit untergelaufen ſey? das war eine andere Frage, die jeder philoſophiſche Kopf mit einem lauten Ja beantwortete; das konnte nun Stilling damals durchaus nicht ertragen, er glaubte es beſſer zu wiſſen, und eigentlich darum ſchwieg er. Der Verfolg dieſer Geſchichte wird’s zeigen, in wie fern jene Leute Recht oder Unrecht hatten. Doch ich lenke wieder ein auf meinem Wege.
Das Medizinal-Kollegium ſetzte nun die Termine zum Exa- men in der Geburtshuͤlfe und zur Entſcheidung wegen der Ent- bindung jener Schoͤnenthaler Frau an. Im Examen wur- den ihm die verfaͤnglichſten Fragen vorgelegt, er beſtand aber dem allen ungeachtet wohl; nun wurde auch die Maſchine mit der Puppe gebracht, dieſe ſollte er nun herausziehen, aber ſie wurde hinter der Gardine feſtgehalten, ſo, daß es unmoͤglich war, ſie zu bekommen; Stilling ſagte das laut, aber er wurde ausgelacht, und ſo beſtand er nicht im Examen. Es wurde alſo dekredirt: er ſey zwar in der Theorie ziem-
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Lage und ſeine Abhaͤngigkeit von dieſem ſchrecklichen Manne,
er ſank alſo zuruͤck auf einen Stuhl, und weinte wie ein Kind;
dies diente nun zu weiter nichts, als daß er deſto mehr ge-
hoͤhnt wurde; er ſtand alſo auf und ging fort. Damit man
nun im Vollkraft’ſchen Hauſe ſeinen Kummer nicht zu
ſehr merken moͤchte, ſo ſpazirte er eine Weile auf dem Wall
herum, dann ging er ins Haus, und ſchien munterer, als er
war. Die Urſache, warum er Herrn Vollkraft nicht Alles
ſagte und klagte, lag in ſeiner Natur; denn ſo offenherzig er
in allen Gluͤcksfaͤllen war, ſo ſehr verſchwieg er Alles, was
er zu leiden hatte. Der Grund dazu war ein hoher Grad
von Selbſtliebe und Schonung ſeiner Freunde. Gewiſſen Leu-
ten aber, die von dergleichen Fuͤhrungen Erfahrung hatten,
konnte er Alles ſagen — Alles entdecken; dieſe Erſcheinung
aber hatte noch einen tiefern Grund, den er erſt lange nach-
her bemerkt hat: vernuͤnftige, ſcharfſichtige Leute konnten nicht
ſo gerade Alles, wie er, fuͤr goͤttliche Fuͤhrung halten; daran
zweifelte Niemand, daß ihn die Vorſehung beſonders und zu
großen Zwecken fuͤhre; ob aber nicht auch bei ſeiner Heirath,
bei allerhand Schickſalen und Beſtimmungen viel Menſchliches
mit untergelaufen ſey? das war eine andere Frage, die jeder
philoſophiſche Kopf mit einem lauten Ja beantwortete; das
konnte nun Stilling damals durchaus nicht ertragen, er
glaubte es beſſer zu wiſſen, und eigentlich darum ſchwieg er.
Der Verfolg dieſer Geſchichte wird’s zeigen, in wie fern jene
Leute Recht oder Unrecht hatten. Doch ich lenke wieder ein
auf meinem Wege.
Das Medizinal-Kollegium ſetzte nun die Termine zum Exa-
men in der Geburtshuͤlfe und zur Entſcheidung wegen der Ent-
bindung jener Schoͤnenthaler Frau an. Im Examen wur-
den ihm die verfaͤnglichſten Fragen vorgelegt, er beſtand aber
dem allen ungeachtet wohl; nun wurde auch die Maſchine
mit der Puppe gebracht, dieſe ſollte er nun herausziehen, aber
ſie wurde hinter der Gardine feſtgehalten, ſo, daß es unmoͤglich
war, ſie zu bekommen; Stilling ſagte das laut, aber er
wurde ausgelacht, und ſo beſtand er nicht im Examen. Es
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/326>, abgerufen am 22.11.2024.
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