lich, aber in der Praxis gar nicht bestanden, es wurde ihm also nur in den höchsten Nothfällen gestattet, den Gebärenden Hülfe zu leisten.
Bei allen diesen verdrüßlichen Vorfällen mußte doch Stil- ling laut lachen, als er das las, und das ganze Publikum lachte mit: man verbot einem für ungeschickt erklärten Manne die Geburtshülfe; nahm aber doch die allergefährlichsten Fälle davon aus, in diesen erlaubte man dem Ungeschickten den Beistand. In Ansehung des Entbindungsfalls aber erklärte man Stillingen für den Ursacher des Todes des Kindes, doch verschonte man ihn mit der Bestrafung. Viel Gnade für den armen Doktor -- ungestraft morden zu dürfen!
Indessen kränkte ihn doch dieses Dekret tief in der Seele, und er ritt also noch denselben Nachmittag fort nach Duis- burg, um den ganzen Vorfall der medizinischen Fakultät, welcher damals der verehrungswürdige Leidefrost als Deka- nus vorstand, vorzulegen. Hier wurde er für vollkommen un- schuldig erklärt, und er erhielt ein Responsum, das seine Ehre gänzlich wieder herstellte; dieses Responsum publicirte der Mann der entbundenen Frau auf dem Schönenthaler Rathhause selbst. Indessen fiel doch der Werth dieser Kur durch den ganzen Hergang um Vieles, und Stillings Feinde nahmen daher Anlaß, wieder recht zu lästern.
Stillings glückliche Staarkuren hatten indessen viel Auf- sehen verursacht, und ein gewisser Freund ließ sogar in der Frank- furter Zeitung eine Nachricht davon einrücken. Nun war aber auf der Universität zu Marburg ein sehr rechtschaffener und geschickter Lehrer der Rechtsgelehrsamkeit, der Herr Professor Sorber, welcher schon drei Jahre am grauen Staar blind war, diesem wurde die Zeitungsnachricht vorgelesen; in dem Augenblick empfand er den Trieb bei sich, die weite Reise nach Schönenthal zu machen, um sich von Stilling operiren und kuriren zu lassen. Er kam also im Jahre 1774 am Ende des Aprils mit seiner Eheliebsten und zweien Töchtern an, und Stilling operirte ihn im Anfang des Mais glücklich; auch ging die Kur dergestalt von statten, daß der Patient sein Gesicht vollkommen wieder bekam und noch bis heute seinem Lehramt
lich, aber in der Praxis gar nicht beſtanden, es wurde ihm alſo nur in den hoͤchſten Nothfaͤllen geſtattet, den Gebaͤrenden Huͤlfe zu leiſten.
Bei allen dieſen verdruͤßlichen Vorfaͤllen mußte doch Stil- ling laut lachen, als er das las, und das ganze Publikum lachte mit: man verbot einem fuͤr ungeſchickt erklaͤrten Manne die Geburtshuͤlfe; nahm aber doch die allergefaͤhrlichſten Faͤlle davon aus, in dieſen erlaubte man dem Ungeſchickten den Beiſtand. In Anſehung des Entbindungsfalls aber erklaͤrte man Stillingen fuͤr den Urſacher des Todes des Kindes, doch verſchonte man ihn mit der Beſtrafung. Viel Gnade fuͤr den armen Doktor — ungeſtraft morden zu duͤrfen!
Indeſſen kraͤnkte ihn doch dieſes Dekret tief in der Seele, und er ritt alſo noch denſelben Nachmittag fort nach Duis- burg, um den ganzen Vorfall der mediziniſchen Fakultaͤt, welcher damals der verehrungswuͤrdige Leidefroſt als Deka- nus vorſtand, vorzulegen. Hier wurde er fuͤr vollkommen un- ſchuldig erklaͤrt, und er erhielt ein Reſponſum, das ſeine Ehre gaͤnzlich wieder herſtellte; dieſes Reſponſum publicirte der Mann der entbundenen Frau auf dem Schoͤnenthaler Rathhauſe ſelbſt. Indeſſen fiel doch der Werth dieſer Kur durch den ganzen Hergang um Vieles, und Stillings Feinde nahmen daher Anlaß, wieder recht zu laͤſtern.
Stillings gluͤckliche Staarkuren hatten indeſſen viel Auf- ſehen verurſacht, und ein gewiſſer Freund ließ ſogar in der Frank- furter Zeitung eine Nachricht davon einruͤcken. Nun war aber auf der Univerſitaͤt zu Marburg ein ſehr rechtſchaffener und geſchickter Lehrer der Rechtsgelehrſamkeit, der Herr Profeſſor Sorber, welcher ſchon drei Jahre am grauen Staar blind war, dieſem wurde die Zeitungsnachricht vorgeleſen; in dem Augenblick empfand er den Trieb bei ſich, die weite Reiſe nach Schoͤnenthal zu machen, um ſich von Stilling operiren und kuriren zu laſſen. Er kam alſo im Jahre 1774 am Ende des Aprils mit ſeiner Eheliebſten und zweien Toͤchtern an, und Stilling operirte ihn im Anfang des Mais gluͤcklich; auch ging die Kur dergeſtalt von ſtatten, daß der Patient ſein Geſicht vollkommen wieder bekam und noch bis heute ſeinem Lehramt
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[319/0327]
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Bei allen dieſen verdruͤßlichen Vorfaͤllen mußte doch Stil-
ling laut lachen, als er das las, und das ganze Publikum
lachte mit: man verbot einem fuͤr ungeſchickt erklaͤrten Manne
die Geburtshuͤlfe; nahm aber doch die allergefaͤhrlichſten
Faͤlle davon aus, in dieſen erlaubte man dem Ungeſchickten
den Beiſtand. In Anſehung des Entbindungsfalls aber erklaͤrte
man Stillingen fuͤr den Urſacher des Todes des Kindes,
doch verſchonte man ihn mit der Beſtrafung. Viel Gnade fuͤr
den armen Doktor — ungeſtraft morden zu duͤrfen!
Indeſſen kraͤnkte ihn doch dieſes Dekret tief in der Seele,
und er ritt alſo noch denſelben Nachmittag fort nach Duis-
burg, um den ganzen Vorfall der mediziniſchen Fakultaͤt,
welcher damals der verehrungswuͤrdige Leidefroſt als Deka-
nus vorſtand, vorzulegen. Hier wurde er fuͤr vollkommen un-
ſchuldig erklaͤrt, und er erhielt ein Reſponſum, das ſeine Ehre
gaͤnzlich wieder herſtellte; dieſes Reſponſum publicirte der Mann
der entbundenen Frau auf dem Schoͤnenthaler Rathhauſe
ſelbſt. Indeſſen fiel doch der Werth dieſer Kur durch den ganzen
Hergang um Vieles, und Stillings Feinde nahmen daher
Anlaß, wieder recht zu laͤſtern.
Stillings gluͤckliche Staarkuren hatten indeſſen viel Auf-
ſehen verurſacht, und ein gewiſſer Freund ließ ſogar in der Frank-
furter Zeitung eine Nachricht davon einruͤcken. Nun war aber
auf der Univerſitaͤt zu Marburg ein ſehr rechtſchaffener und
geſchickter Lehrer der Rechtsgelehrſamkeit, der Herr Profeſſor
Sorber, welcher ſchon drei Jahre am grauen Staar blind
war, dieſem wurde die Zeitungsnachricht vorgeleſen; in dem
Augenblick empfand er den Trieb bei ſich, die weite Reiſe nach
Schoͤnenthal zu machen, um ſich von Stilling operiren
und kuriren zu laſſen. Er kam alſo im Jahre 1774 am Ende
des Aprils mit ſeiner Eheliebſten und zweien Toͤchtern an, und
Stilling operirte ihn im Anfang des Mais gluͤcklich; auch
ging die Kur dergeſtalt von ſtatten, daß der Patient ſein Geſicht
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/327>, abgerufen am 22.11.2024.
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