dachte: hier ist mein Wirkungskreis größer, die Gesinnung des Publikums weniger kleinstädtisch, als in Schönenthal, hier ist der Zulauf von Standespersonen und Fremden unun- terbrochen und groß, du kannst hier Etwas erwerben und so der Mann werden, der du von Jugend auf hast seyn wollen.
Gerade zu dieser Zeit fanden sich noch etliche blinde Per- sonen ein: der Erste war der Herr Hofrath und Doktor Hut, Physikus in Wiesbaden, welcher in einer Nacht durch eine Verkältung an einem Auge staarblind geworden war; er logirte bei seinem Bruder, dem Herrn Hofrath und Con- sulenten Hut, in Frankfurt; Stilling operirte und kurirte ihn glücklich; dieser allgemein bekannte und sehr edle redliche Mann ward dadurch sein immerwährender Freund, besonders auch darum, weil sie einerlei Gesinnungen hatten.
Der zweite war ein jüdischer Rabbi, in der Judengasse zu Frankfurt wohnhaft; er war schon lange an beiden Augen blind und ließ Stilling ersuchen, zu ihm zu kommen: die- ser ging hin und fand einen Greis von acht und sechzig Jah- ren mit einem schneeweißen, bis auf den Gürtel herabhängen- den Bart. So wie er hörte, daß der Arzt da wäre, stolperte er vom Stuhl auf, strebte ihm entgegen, und sagte: Herr Doktor! guke Se mer ämohl in die Aaga! -- dann machte er ein grinzig Gesicht, und riß beide Augen sperrweit auf; mittlerweile drängten sich eine Menge Judengesichter von aller- hand Gattung herbei, und hier und da erscholl eine Stimme: horcht --! was wird er sagä! Stilling besahe die Augen und erklärte, daß er ihm nächst Gott würde helfen können.
Gotts Wunner (von allen Seiten) der Herr soll hundert Jahr läbä!
Nun fing der Rabbi an: Pscht -- horchen Se ämohl, Herr Doktor! aber nur a Aag! nur ahns! -- denn wenns un nicht gerieth -- nur ahus.
Gut, antwortete Stilling, ich komme übermorgen; also nur eins.
Des andern Tages operirte Stilling im Judenhospital eine arme Frau, und den folgenden Morgen den Rabbi. An diesem Tage wurde er einsmals in des Herrn von Leesners
dachte: hier iſt mein Wirkungskreis groͤßer, die Geſinnung des Publikums weniger kleinſtaͤdtiſch, als in Schoͤnenthal, hier iſt der Zulauf von Standesperſonen und Fremden unun- terbrochen und groß, du kannſt hier Etwas erwerben und ſo der Mann werden, der du von Jugend auf haſt ſeyn wollen.
Gerade zu dieſer Zeit fanden ſich noch etliche blinde Per- ſonen ein: der Erſte war der Herr Hofrath und Doktor Hut, Phyſikus in Wiesbaden, welcher in einer Nacht durch eine Verkaͤltung an einem Auge ſtaarblind geworden war; er logirte bei ſeinem Bruder, dem Herrn Hofrath und Con- ſulenten Hut, in Frankfurt; Stilling operirte und kurirte ihn gluͤcklich; dieſer allgemein bekannte und ſehr edle redliche Mann ward dadurch ſein immerwaͤhrender Freund, beſonders auch darum, weil ſie einerlei Geſinnungen hatten.
Der zweite war ein juͤdiſcher Rabbi, in der Judengaſſe zu Frankfurt wohnhaft; er war ſchon lange an beiden Augen blind und ließ Stilling erſuchen, zu ihm zu kommen: die- ſer ging hin und fand einen Greis von acht und ſechzig Jah- ren mit einem ſchneeweißen, bis auf den Guͤrtel herabhaͤngen- den Bart. So wie er hoͤrte, daß der Arzt da waͤre, ſtolperte er vom Stuhl auf, ſtrebte ihm entgegen, und ſagte: Herr Doktor! guke Se mer aͤmohl in die Aaga! — dann machte er ein grinzig Geſicht, und riß beide Augen ſperrweit auf; mittlerweile draͤngten ſich eine Menge Judengeſichter von aller- hand Gattung herbei, und hier und da erſcholl eine Stimme: horcht —! was wird er ſagaͤ! Stilling beſahe die Augen und erklaͤrte, daß er ihm naͤchſt Gott wuͤrde helfen koͤnnen.
Gotts Wunner (von allen Seiten) der Herr ſoll hundert Jahr laͤbaͤ!
Nun fing der Rabbi an: Pſcht — horchen Se aͤmohl, Herr Doktor! aber nur a Aag! nur ahns! — denn wenns un nicht gerieth — nur ahus.
Gut, antwortete Stilling, ich komme uͤbermorgen; alſo nur eins.
Des andern Tages operirte Stilling im Judenhoſpital eine arme Frau, und den folgenden Morgen den Rabbi. An dieſem Tage wurde er einsmals in des Herrn von Leesners
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dachte: hier iſt mein Wirkungskreis groͤßer, die Geſinnung
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terbrochen und groß, du kannſt hier Etwas erwerben und ſo
der Mann werden, der du von Jugend auf haſt ſeyn wollen.
Gerade zu dieſer Zeit fanden ſich noch etliche blinde Per-
ſonen ein: der Erſte war der Herr Hofrath und Doktor Hut,
Phyſikus in Wiesbaden, welcher in einer Nacht durch
eine Verkaͤltung an einem Auge ſtaarblind geworden war;
er logirte bei ſeinem Bruder, dem Herrn Hofrath und Con-
ſulenten Hut, in Frankfurt; Stilling operirte und kurirte
ihn gluͤcklich; dieſer allgemein bekannte und ſehr edle redliche
Mann ward dadurch ſein immerwaͤhrender Freund, beſonders
auch darum, weil ſie einerlei Geſinnungen hatten.
Der zweite war ein juͤdiſcher Rabbi, in der Judengaſſe
zu Frankfurt wohnhaft; er war ſchon lange an beiden Augen
blind und ließ Stilling erſuchen, zu ihm zu kommen: die-
ſer ging hin und fand einen Greis von acht und ſechzig Jah-
ren mit einem ſchneeweißen, bis auf den Guͤrtel herabhaͤngen-
den Bart. So wie er hoͤrte, daß der Arzt da waͤre, ſtolperte
er vom Stuhl auf, ſtrebte ihm entgegen, und ſagte: Herr
Doktor! guke Se mer aͤmohl in die Aaga! — dann machte
er ein grinzig Geſicht, und riß beide Augen ſperrweit auf;
mittlerweile draͤngten ſich eine Menge Judengeſichter von aller-
hand Gattung herbei, und hier und da erſcholl eine Stimme:
horcht —! was wird er ſagaͤ! Stilling beſahe die Augen
und erklaͤrte, daß er ihm naͤchſt Gott wuͤrde helfen koͤnnen.
Gotts Wunner (von allen Seiten) der Herr ſoll hundert
Jahr laͤbaͤ!
Nun fing der Rabbi an: Pſcht — horchen Se aͤmohl,
Herr Doktor! aber nur a Aag! nur ahns! — denn wenns
un nicht gerieth — nur ahus.
Gut, antwortete Stilling, ich komme uͤbermorgen; alſo
nur eins.
Des andern Tages operirte Stilling im Judenhoſpital
eine arme Frau, und den folgenden Morgen den Rabbi. An
dieſem Tage wurde er einsmals in des Herrn von Leesners
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/344>, abgerufen am 22.11.2024.
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