Wohnung herab an die Hausthüre gerufen; hier fand er einen armen Betteljuden von etwa sechzig Jahren; er war an bei- den Augen stockblind und suchte also Hülfe; sein Sohn, ein feiner Jüngling von sechzehn Jahren, führte ihn. Dieser arme Mann weinte, und sagte: Ach, lieber Herr Doktor! ich und meine Frau haben zehn lebendige Kinder, ich war ein fleißiger Mann, hab' über Land und Sand gelaufen, und sie ehrlich ernährt; aber nun lieber Gott! ich bettle und Alles bettelt, und Sie wissen wohl, wie das mit uns Juden ist. Stil- ling wurde innig gerührt, mit Thränen in den Augen ergriff er seine beiden Hände, drückte sie und sagte: Mit Gott sollt ihr euer Gesicht wieder haben! der Jude und sein Sohn wein- ten laut, sie wollten auf die Knie fallen, allein Stilling litt das nicht und fuhr fort: wo wollt ihr Quartier und Aufent- halt bekommen? ich nehme nichts von euch: aber ihr müßt doch vierzehn Tage hier bleiben. -- Ja, lieber Gott! antwor- tete er, das wird Noth haben, es wohnen so viele reiche Ju- den hier, aber sie nehmen keinen Fremden auf. Stilling versetzte: kommt morgen um neun Uhr ins Judenspital, dort will ich mit den Vorstehern sprechen.
Dieß geschah: denn als Stilling dort die arme Frau verband, so kam der Blinde mit seinem Sohne heran gestie- gen, die ganze Stube war voller Juden, vornehme und ge- ringe durcheinander. Hier trug nun der arme Blinde seine Noth kläglich vor, allein er fand kein Gehör, dieß hartherzige Volk hatte kein Gefühl für das große Elend seines Bruders. Stilling schwieg so lange still, bis er merkte, daß Bitten und Flehen nicht half: jetzt aber fing er an ernsthaft zu re- den, er verwies ihnen ihre Unbarmherzigkeit derb, und bezeugte vor dem lebendigen Gott, daß er den Rabbi und die gegen- wärtige Patientin auf der Stelle verlassen und keine Hand mehr an sie legen würde, bis der arme Mann auf vierzehn Tage ordentlich und bequem einlogirt wäre und den gehöri- gen Unterhalt hätte. Das wirkte; denn in weniger als zwei Stunden hatte der arme Jude in einem Wirthshause, nah' an der Judengasse, Alles, was er brauchte.
Nun besuchte ihn Stilling, der Jude war zwar vergnügt,
Wohnung herab an die Hausthuͤre gerufen; hier fand er einen armen Betteljuden von etwa ſechzig Jahren; er war an bei- den Augen ſtockblind und ſuchte alſo Huͤlfe; ſein Sohn, ein feiner Juͤngling von ſechzehn Jahren, fuͤhrte ihn. Dieſer arme Mann weinte, und ſagte: Ach, lieber Herr Doktor! ich und meine Frau haben zehn lebendige Kinder, ich war ein fleißiger Mann, hab’ uͤber Land und Sand gelaufen, und ſie ehrlich ernaͤhrt; aber nun lieber Gott! ich bettle und Alles bettelt, und Sie wiſſen wohl, wie das mit uns Juden iſt. Stil- ling wurde innig geruͤhrt, mit Thraͤnen in den Augen ergriff er ſeine beiden Haͤnde, druͤckte ſie und ſagte: Mit Gott ſollt ihr euer Geſicht wieder haben! der Jude und ſein Sohn wein- ten laut, ſie wollten auf die Knie fallen, allein Stilling litt das nicht und fuhr fort: wo wollt ihr Quartier und Aufent- halt bekommen? ich nehme nichts von euch: aber ihr muͤßt doch vierzehn Tage hier bleiben. — Ja, lieber Gott! antwor- tete er, das wird Noth haben, es wohnen ſo viele reiche Ju- den hier, aber ſie nehmen keinen Fremden auf. Stilling verſetzte: kommt morgen um neun Uhr ins Judenſpital, dort will ich mit den Vorſtehern ſprechen.
Dieß geſchah: denn als Stilling dort die arme Frau verband, ſo kam der Blinde mit ſeinem Sohne heran geſtie- gen, die ganze Stube war voller Juden, vornehme und ge- ringe durcheinander. Hier trug nun der arme Blinde ſeine Noth klaͤglich vor, allein er fand kein Gehoͤr, dieß hartherzige Volk hatte kein Gefuͤhl fuͤr das große Elend ſeines Bruders. Stilling ſchwieg ſo lange ſtill, bis er merkte, daß Bitten und Flehen nicht half: jetzt aber fing er an ernſthaft zu re- den, er verwies ihnen ihre Unbarmherzigkeit derb, und bezeugte vor dem lebendigen Gott, daß er den Rabbi und die gegen- waͤrtige Patientin auf der Stelle verlaſſen und keine Hand mehr an ſie legen wuͤrde, bis der arme Mann auf vierzehn Tage ordentlich und bequem einlogirt waͤre und den gehoͤri- gen Unterhalt haͤtte. Das wirkte; denn in weniger als zwei Stunden hatte der arme Jude in einem Wirthshauſe, nah’ an der Judengaſſe, Alles, was er brauchte.
Nun beſuchte ihn Stilling, der Jude war zwar vergnuͤgt,
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Wohnung herab an die Hausthuͤre gerufen; hier fand er einen
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feiner Juͤngling von ſechzehn Jahren, fuͤhrte ihn. Dieſer arme
Mann weinte, und ſagte: Ach, lieber Herr Doktor! ich und
meine Frau haben zehn lebendige Kinder, ich war ein fleißiger
Mann, hab’ uͤber Land und Sand gelaufen, und ſie ehrlich
ernaͤhrt; aber nun lieber Gott! ich bettle und Alles bettelt,
und Sie wiſſen wohl, wie das mit uns Juden iſt. Stil-
ling wurde innig geruͤhrt, mit Thraͤnen in den Augen ergriff
er ſeine beiden Haͤnde, druͤckte ſie und ſagte: Mit Gott ſollt
ihr euer Geſicht wieder haben! der Jude und ſein Sohn wein-
ten laut, ſie wollten auf die Knie fallen, allein Stilling
litt das nicht und fuhr fort: wo wollt ihr Quartier und Aufent-
halt bekommen? ich nehme nichts von euch: aber ihr muͤßt
doch vierzehn Tage hier bleiben. — Ja, lieber Gott! antwor-
tete er, das wird Noth haben, es wohnen ſo viele reiche Ju-
den hier, aber ſie nehmen keinen Fremden auf. Stilling
verſetzte: kommt morgen um neun Uhr ins Judenſpital, dort
will ich mit den Vorſtehern ſprechen.
Dieß geſchah: denn als Stilling dort die arme Frau
verband, ſo kam der Blinde mit ſeinem Sohne heran geſtie-
gen, die ganze Stube war voller Juden, vornehme und ge-
ringe durcheinander. Hier trug nun der arme Blinde ſeine
Noth klaͤglich vor, allein er fand kein Gehoͤr, dieß hartherzige
Volk hatte kein Gefuͤhl fuͤr das große Elend ſeines Bruders.
Stilling ſchwieg ſo lange ſtill, bis er merkte, daß Bitten
und Flehen nicht half: jetzt aber fing er an ernſthaft zu re-
den, er verwies ihnen ihre Unbarmherzigkeit derb, und bezeugte
vor dem lebendigen Gott, daß er den Rabbi und die gegen-
waͤrtige Patientin auf der Stelle verlaſſen und keine Hand
mehr an ſie legen wuͤrde, bis der arme Mann auf vierzehn
Tage ordentlich und bequem einlogirt waͤre und den gehoͤri-
gen Unterhalt haͤtte. Das wirkte; denn in weniger als zwei
Stunden hatte der arme Jude in einem Wirthshauſe, nah’
an der Judengaſſe, Alles, was er brauchte.
Nun beſuchte ihn Stilling, der Jude war zwar vergnuͤgt,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/345>, abgerufen am 22.11.2024.
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