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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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zu bemerken, daß man ihn, wenn er über die Gasse ging,
mit starren Augen ansah und eine Weile beobachtete; wo
er herging, da lief man an die Fenster, schaute ihn begierig
an, und lispelte sich zu: Siehe, da geht er, -- du großer
Gott! u. s. w. -- Dieß Betragen von allen Seiten war
ihm unbegreiflich, und erschütterte ihn durch Mark und Bein;
wenn er mit Jemand sprach, so merkte er, wie ihn bald
Einer mit Aufmerksamkeit betrachtete, bald ein Anderer sich
mit Wehmuth wegwandte; er ging also nur selten aus, trauerte
in der Stille tief, und er kam sich vor wie ein Gespenst, vor
dem sich Menschen fürchten und ihm ausweichen. Diese neue
Art des Leidens kann sich Niemand vorstellen, sie ist zu son-
derbar, aber auch so unerträglich, daß ganz vorzügliche Kräfte
nöthig sind, sie zu ertragen. Nun bemerkte er auch, daß fast
gar keine Patienten mehr zu ihm kamen, und daß es also
schien, als wenn es nun vollends gar aus wäre. Dieser
schreckliche Zustand währte vierzehn Tage.

Endlich an einem Nachmittag trat sein Hausherr zur Thüre
herein; dieser stellte sich hin, sah den Doktor Stilling mit
starren, bethränten Augen an und sagte: "Herr Doktor! neh-
"men Sie mir nicht übel, meine Liebe zu Ihnen drängt mich,
"Ihnen Etwas zu entdecken: denken Sie, das Gerücht läuft
"in ganz Schönenthal herum, Sie seyen am Sonnabend vier-
"zehn Tage, des Abends auf Einmal unsinnig geworden, man
"merke es Ihnen zwar nicht an, aber Sie hätten völlig den
"Verstand verloren, daher hat man auch alle Patienten vor
"Ihnen gewarnt. Sagen Sie mir doch einmal, wie ist Ihnen
"denn? ich habe genau auf Sie Acht gegeben und habe nichts
"gemerkt."

Christine verhüllte ihr Angesicht in ihre Schürze, heulte
laut und lief fort: Stilling aber stand und staunte; Weh-
muth, Aerger und unzählbare Empfindungen von aller Art
stürmten so gewaltsam aus dem Herzen gegen das Haupt zu,
daß er wohl unsinnig hätte werden können, wenn nicht die
Mischung seiner Säfte und seine innere Organisation so aus-
serordentlich regelmäßig gewesen wäre.

Mit einem unbeschreiblichen, aus dem höchstlächerlichen und

zu bemerken, daß man ihn, wenn er uͤber die Gaſſe ging,
mit ſtarren Augen anſah und eine Weile beobachtete; wo
er herging, da lief man an die Fenſter, ſchaute ihn begierig
an, und liſpelte ſich zu: Siehe, da geht er, — du großer
Gott! u. ſ. w. — Dieß Betragen von allen Seiten war
ihm unbegreiflich, und erſchuͤtterte ihn durch Mark und Bein;
wenn er mit Jemand ſprach, ſo merkte er, wie ihn bald
Einer mit Aufmerkſamkeit betrachtete, bald ein Anderer ſich
mit Wehmuth wegwandte; er ging alſo nur ſelten aus, trauerte
in der Stille tief, und er kam ſich vor wie ein Geſpenſt, vor
dem ſich Menſchen fuͤrchten und ihm ausweichen. Dieſe neue
Art des Leidens kann ſich Niemand vorſtellen, ſie iſt zu ſon-
derbar, aber auch ſo unertraͤglich, daß ganz vorzuͤgliche Kraͤfte
noͤthig ſind, ſie zu ertragen. Nun bemerkte er auch, daß faſt
gar keine Patienten mehr zu ihm kamen, und daß es alſo
ſchien, als wenn es nun vollends gar aus waͤre. Dieſer
ſchreckliche Zuſtand waͤhrte vierzehn Tage.

Endlich an einem Nachmittag trat ſein Hausherr zur Thuͤre
herein; dieſer ſtellte ſich hin, ſah den Doktor Stilling mit
ſtarren, bethraͤnten Augen an und ſagte: „Herr Doktor! neh-
„men Sie mir nicht uͤbel, meine Liebe zu Ihnen draͤngt mich,
„Ihnen Etwas zu entdecken: denken Sie, das Geruͤcht laͤuft
„in ganz Schoͤnenthal herum, Sie ſeyen am Sonnabend vier-
„zehn Tage, des Abends auf Einmal unſinnig geworden, man
„merke es Ihnen zwar nicht an, aber Sie haͤtten voͤllig den
„Verſtand verloren, daher hat man auch alle Patienten vor
„Ihnen gewarnt. Sagen Sie mir doch einmal, wie iſt Ihnen
„denn? ich habe genau auf Sie Acht gegeben und habe nichts
„gemerkt.“

Chriſtine verhuͤllte ihr Angeſicht in ihre Schuͤrze, heulte
laut und lief fort: Stilling aber ſtand und ſtaunte; Weh-
muth, Aerger und unzaͤhlbare Empfindungen von aller Art
ſtuͤrmten ſo gewaltſam aus dem Herzen gegen das Haupt zu,
daß er wohl unſinnig haͤtte werden koͤnnen, wenn nicht die
Miſchung ſeiner Saͤfte und ſeine innere Organiſation ſo auſ-
ſerordentlich regelmaͤßig geweſen waͤre.

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[349/0357] zu bemerken, daß man ihn, wenn er uͤber die Gaſſe ging, mit ſtarren Augen anſah und eine Weile beobachtete; wo er herging, da lief man an die Fenſter, ſchaute ihn begierig an, und liſpelte ſich zu: Siehe, da geht er, — du großer Gott! u. ſ. w. — Dieß Betragen von allen Seiten war ihm unbegreiflich, und erſchuͤtterte ihn durch Mark und Bein; wenn er mit Jemand ſprach, ſo merkte er, wie ihn bald Einer mit Aufmerkſamkeit betrachtete, bald ein Anderer ſich mit Wehmuth wegwandte; er ging alſo nur ſelten aus, trauerte in der Stille tief, und er kam ſich vor wie ein Geſpenſt, vor dem ſich Menſchen fuͤrchten und ihm ausweichen. Dieſe neue Art des Leidens kann ſich Niemand vorſtellen, ſie iſt zu ſon- derbar, aber auch ſo unertraͤglich, daß ganz vorzuͤgliche Kraͤfte noͤthig ſind, ſie zu ertragen. Nun bemerkte er auch, daß faſt gar keine Patienten mehr zu ihm kamen, und daß es alſo ſchien, als wenn es nun vollends gar aus waͤre. Dieſer ſchreckliche Zuſtand waͤhrte vierzehn Tage. Endlich an einem Nachmittag trat ſein Hausherr zur Thuͤre herein; dieſer ſtellte ſich hin, ſah den Doktor Stilling mit ſtarren, bethraͤnten Augen an und ſagte: „Herr Doktor! neh- „men Sie mir nicht uͤbel, meine Liebe zu Ihnen draͤngt mich, „Ihnen Etwas zu entdecken: denken Sie, das Geruͤcht laͤuft „in ganz Schoͤnenthal herum, Sie ſeyen am Sonnabend vier- „zehn Tage, des Abends auf Einmal unſinnig geworden, man „merke es Ihnen zwar nicht an, aber Sie haͤtten voͤllig den „Verſtand verloren, daher hat man auch alle Patienten vor „Ihnen gewarnt. Sagen Sie mir doch einmal, wie iſt Ihnen „denn? ich habe genau auf Sie Acht gegeben und habe nichts „gemerkt.“ Chriſtine verhuͤllte ihr Angeſicht in ihre Schuͤrze, heulte laut und lief fort: Stilling aber ſtand und ſtaunte; Weh- muth, Aerger und unzaͤhlbare Empfindungen von aller Art ſtuͤrmten ſo gewaltſam aus dem Herzen gegen das Haupt zu, daß er wohl unſinnig haͤtte werden koͤnnen, wenn nicht die Miſchung ſeiner Saͤfte und ſeine innere Organiſation ſo auſ- ſerordentlich regelmaͤßig geweſen waͤre. Mit einem unbeſchreiblichen, aus dem hoͤchſtlaͤcherlichen und

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/357>, abgerufen am 23.11.2024.