betraf, dawider konnte Niemand mit Grund Etwas einwen- den, und doch lag auch eine Ursache, warum es ihm so gar hinderlich ging, in seinem Charakter und in seiner häuslichen Verfassung. Nichts in der Welt war ihm drückender, als Jemand schuldig zu seyn, viele und drückende Schulden zu ha- ben. Sein Fleiß und seine Thätigkeit waren unbegränzt, aber er konnte nicht auf Zahlung dringen; sein Charakter zwang ihn, auch im größten eigenen Mangel, dem Armen seine Schuld zu schenken, und dem Reichen, der knauserte oder über seine Forderungen murrte, ein Kreuz über die Rechnung -- zu groß- müthig, um Geldes willen nur ein unangenehmes Wort zu verlieren, zu wehe. In Nahrung und Kleidung war er rein- lich, nett, aber sehr modest und einfach, auch hatte er kein Steckenpferd, das ihm Geld gekostet hätte, und doch gab er oft ohne weitere Ueberlegung Etwas aus, das viel besser hätte können verwendet werden, mit Einem Wort: er war ein Ge- lehrter und kein Kaufmann. Christine hingegen war äußerst sparsam, sie legte jeden Heller ein paarmal um, ehe sie ihn ausgab, allein sie übersah das Ganze der Haushaltung nicht, sie sparte nur mit dem, was ihr in die Hand kam.
So viel ist wahr, Stilling hätte, wenn er und seine Gattin den Kaufmannsgeist besessen hätten, weniger Schulden gemacht, aber in ihrer Verfassung ganz ohne Schulden zu blei- ben, das war unmöglich. Diese Bemerkung bin ich der Wahr- heit schuldig.
Wer sich eine lebhafte Vorstellung von Stillings damali- ger Gemüthsverfassung machen will, der stelle sich einen Wan- derer auf einem schmalen Fußsteig an einer senkrechten Felsen- wand vor, rechter Hand einer Hand breit, weiter einen Ab- grund von unsichtbarer Tiefe, links an ihn gedrängt, steil auf- steigend der Felsen, und drohenden lockern Steinmassen, die über seinem Kopf hangen, vor sich hin keine Hoffnung zum bessern sicheren Wege, im Gegentheil wird der Pfad immer schmäler, und nun hört er ganz auf, allenthalben Abgrund!
Stilling hätte nur brauchen ein Bekenner der neuen Modereligion zu seyn, so wäre er fortgegangen und hätte Frau und Kinder sitzen gelassen, aber die Versuchung dazu kam ihm
betraf, dawider konnte Niemand mit Grund Etwas einwen- den, und doch lag auch eine Urſache, warum es ihm ſo gar hinderlich ging, in ſeinem Charakter und in ſeiner haͤuslichen Verfaſſung. Nichts in der Welt war ihm druͤckender, als Jemand ſchuldig zu ſeyn, viele und druͤckende Schulden zu ha- ben. Sein Fleiß und ſeine Thaͤtigkeit waren unbegraͤnzt, aber er konnte nicht auf Zahlung dringen; ſein Charakter zwang ihn, auch im groͤßten eigenen Mangel, dem Armen ſeine Schuld zu ſchenken, und dem Reichen, der knauſerte oder uͤber ſeine Forderungen murrte, ein Kreuz uͤber die Rechnung — zu groß- muͤthig, um Geldes willen nur ein unangenehmes Wort zu verlieren, zu wehe. In Nahrung und Kleidung war er rein- lich, nett, aber ſehr modeſt und einfach, auch hatte er kein Steckenpferd, das ihm Geld gekoſtet haͤtte, und doch gab er oft ohne weitere Ueberlegung Etwas aus, das viel beſſer haͤtte koͤnnen verwendet werden, mit Einem Wort: er war ein Ge- lehrter und kein Kaufmann. Chriſtine hingegen war aͤußerſt ſparſam, ſie legte jeden Heller ein paarmal um, ehe ſie ihn ausgab, allein ſie uͤberſah das Ganze der Haushaltung nicht, ſie ſparte nur mit dem, was ihr in die Hand kam.
So viel iſt wahr, Stilling haͤtte, wenn er und ſeine Gattin den Kaufmannsgeiſt beſeſſen haͤtten, weniger Schulden gemacht, aber in ihrer Verfaſſung ganz ohne Schulden zu blei- ben, das war unmoͤglich. Dieſe Bemerkung bin ich der Wahr- heit ſchuldig.
Wer ſich eine lebhafte Vorſtellung von Stillings damali- ger Gemuͤthsverfaſſung machen will, der ſtelle ſich einen Wan- derer auf einem ſchmalen Fußſteig an einer ſenkrechten Felſen- wand vor, rechter Hand einer Hand breit, weiter einen Ab- grund von unſichtbarer Tiefe, links an ihn gedraͤngt, ſteil auf- ſteigend der Felſen, und drohenden lockern Steinmaſſen, die uͤber ſeinem Kopf hangen, vor ſich hin keine Hoffnung zum beſſern ſicheren Wege, im Gegentheil wird der Pfad immer ſchmaͤler, und nun hoͤrt er ganz auf, allenthalben Abgrund!
Stilling haͤtte nur brauchen ein Bekenner der neuen Modereligion zu ſeyn, ſo waͤre er fortgegangen und haͤtte Frau und Kinder ſitzen gelaſſen, aber die Verſuchung dazu kam ihm
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betraf, dawider konnte Niemand mit Grund Etwas einwen-
den, und doch lag auch eine Urſache, warum es ihm ſo gar
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Verfaſſung. Nichts in der Welt war ihm druͤckender, als
Jemand ſchuldig zu ſeyn, viele und druͤckende Schulden zu ha-
ben. Sein Fleiß und ſeine Thaͤtigkeit waren unbegraͤnzt, aber
er konnte nicht auf Zahlung dringen; ſein Charakter zwang
ihn, auch im groͤßten eigenen Mangel, dem Armen ſeine Schuld
zu ſchenken, und dem Reichen, der knauſerte oder uͤber ſeine
Forderungen murrte, ein Kreuz uͤber die Rechnung — zu groß-
muͤthig, um Geldes willen nur ein unangenehmes Wort zu
verlieren, zu wehe. In Nahrung und Kleidung war er rein-
lich, nett, aber ſehr modeſt und einfach, auch hatte er kein
Steckenpferd, das ihm Geld gekoſtet haͤtte, und doch gab er
oft ohne weitere Ueberlegung Etwas aus, das viel beſſer haͤtte
koͤnnen verwendet werden, mit Einem Wort: er war ein Ge-
lehrter und kein Kaufmann. Chriſtine hingegen war aͤußerſt
ſparſam, ſie legte jeden Heller ein paarmal um, ehe ſie ihn
ausgab, allein ſie uͤberſah das Ganze der Haushaltung nicht,
ſie ſparte nur mit dem, was ihr in die Hand kam.
So viel iſt wahr, Stilling haͤtte, wenn er und ſeine
Gattin den Kaufmannsgeiſt beſeſſen haͤtten, weniger Schulden
gemacht, aber in ihrer Verfaſſung ganz ohne Schulden zu blei-
ben, das war unmoͤglich. Dieſe Bemerkung bin ich der Wahr-
heit ſchuldig.
Wer ſich eine lebhafte Vorſtellung von Stillings damali-
ger Gemuͤthsverfaſſung machen will, der ſtelle ſich einen Wan-
derer auf einem ſchmalen Fußſteig an einer ſenkrechten Felſen-
wand vor, rechter Hand einer Hand breit, weiter einen Ab-
grund von unſichtbarer Tiefe, links an ihn gedraͤngt, ſteil auf-
ſteigend der Felſen, und drohenden lockern Steinmaſſen, die
uͤber ſeinem Kopf hangen, vor ſich hin keine Hoffnung zum
beſſern ſicheren Wege, im Gegentheil wird der Pfad immer
ſchmaͤler, und nun hoͤrt er ganz auf, allenthalben Abgrund!
Stilling haͤtte nur brauchen ein Bekenner der neuen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/360>, abgerufen am 24.11.2024.
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