Handlung und Vieharzneikunde, und schlug ihn dem Chur- fürsten vor; die Bestätigung erfolgte und es fehlte also nichts weiter, als die förmliche Vokation. Daß sich dieß alles bis in den Sommer hinein verzog, ist natürlich.
Jetzt entzog er sich allmählig seinem bisherigen Beruf; aus- ser einigen wohlhabenden Stadtpatienten, die ihm das nöthige Auskommen verschafften, that er fast nichts mehr in der Me- dizin, und er widmete sich nun ganz seiner künftigen, ihm so sehr angenehmen Bestimmung. Alle seine staatswirthschaftli- chen Kenntnisse lagen in seiner Seele wie ein verworrenes Chavs durcheinander, als künftiger Lehrer mußte er aber alles in ein System bringen, nichts war ihm leichter, als das, denn seine ganze Seele war System; das staatswirthschaftliche Lehr- gebäude entwickelte sich also vor seinen Augen ohne Mühe, und er betrachtete das herrliche Ganze mit innigstem Vergnügen. Ich verweise meine Leser auf seine herausgegebenen vielfältigen Schriften, um sie hier nicht mit gelehrten Abhandlungen aufzuhalten.
Ueber diesen angenehmen Beschäftigungen vorfloß der Som- mer, der Herbst rückte heran, und er erwartete von einem Tag zum andern seinen Beruf. Was geschah? -- in der er- sten Septemberwoche erhielt er einen Brief von Eisenhart, der die ganze Sache wieder gänzlich vernichtete! -- Bei dem Zug des Churfürsten nach Baiern war das Projekt entstan- den, die Kameralakademie nach Mannheim zu verlegen; hier waren nun Männer von allerhand Gattung, welche Stil- lings Lehrstuhl bekleiden sollten und konnten. Eisenhart beklagte sich und ihn, allein es war nicht zu ändern.
Jetzt war sein Zustand völlig unbeschreiblich: er und sein armes Weib saßen beisammen auf ihrem Kämmerlein und weinten um die Wette: nun schien Alles verloren zu seyn; er konnte sich lange nicht besinnen, nicht erholen, so betäubt war er. Endlich warf er sich hin vor Gott, demüthigte sich unter seine gewaltige Hand, und übergab sich, sein Weib und seine zwei Kinder an die väterliche Leitung des Allgütigen, und beschloß nun, ohne das geringste Murren, wieder zur
Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 24
Handlung und Vieharzneikunde, und ſchlug ihn dem Chur- fuͤrſten vor; die Beſtaͤtigung erfolgte und es fehlte alſo nichts weiter, als die foͤrmliche Vokation. Daß ſich dieß alles bis in den Sommer hinein verzog, iſt natuͤrlich.
Jetzt entzog er ſich allmaͤhlig ſeinem bisherigen Beruf; auſ- ſer einigen wohlhabenden Stadtpatienten, die ihm das noͤthige Auskommen verſchafften, that er faſt nichts mehr in der Me- dizin, und er widmete ſich nun ganz ſeiner kuͤnftigen, ihm ſo ſehr angenehmen Beſtimmung. Alle ſeine ſtaatswirthſchaftli- chen Kenntniſſe lagen in ſeiner Seele wie ein verworrenes Chavs durcheinander, als kuͤnftiger Lehrer mußte er aber alles in ein Syſtem bringen, nichts war ihm leichter, als das, denn ſeine ganze Seele war Syſtem; das ſtaatswirthſchaftliche Lehr- gebaͤude entwickelte ſich alſo vor ſeinen Augen ohne Muͤhe, und er betrachtete das herrliche Ganze mit innigſtem Vergnuͤgen. Ich verweiſe meine Leſer auf ſeine herausgegebenen vielfaͤltigen Schriften, um ſie hier nicht mit gelehrten Abhandlungen aufzuhalten.
Ueber dieſen angenehmen Beſchaͤftigungen vorfloß der Som- mer, der Herbſt ruͤckte heran, und er erwartete von einem Tag zum andern ſeinen Beruf. Was geſchah? — in der er- ſten Septemberwoche erhielt er einen Brief von Eiſenhart, der die ganze Sache wieder gaͤnzlich vernichtete! — Bei dem Zug des Churfuͤrſten nach Baiern war das Projekt entſtan- den, die Kameralakademie nach Mannheim zu verlegen; hier waren nun Maͤnner von allerhand Gattung, welche Stil- lings Lehrſtuhl bekleiden ſollten und konnten. Eiſenhart beklagte ſich und ihn, allein es war nicht zu aͤndern.
Jetzt war ſein Zuſtand voͤllig unbeſchreiblich: er und ſein armes Weib ſaßen beiſammen auf ihrem Kaͤmmerlein und weinten um die Wette: nun ſchien Alles verloren zu ſeyn; er konnte ſich lange nicht beſinnen, nicht erholen, ſo betaͤubt war er. Endlich warf er ſich hin vor Gott, demuͤthigte ſich unter ſeine gewaltige Hand, und uͤbergab ſich, ſein Weib und ſeine zwei Kinder an die vaͤterliche Leitung des Allguͤtigen, und beſchloß nun, ohne das geringſte Murren, wieder zur
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 24
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Handlung und Vieharzneikunde, und ſchlug ihn dem Chur-
fuͤrſten vor; die Beſtaͤtigung erfolgte und es fehlte alſo nichts
weiter, als die foͤrmliche Vokation. Daß ſich dieß alles bis
in den Sommer hinein verzog, iſt natuͤrlich.
Jetzt entzog er ſich allmaͤhlig ſeinem bisherigen Beruf; auſ-
ſer einigen wohlhabenden Stadtpatienten, die ihm das noͤthige
Auskommen verſchafften, that er faſt nichts mehr in der Me-
dizin, und er widmete ſich nun ganz ſeiner kuͤnftigen, ihm ſo
ſehr angenehmen Beſtimmung. Alle ſeine ſtaatswirthſchaftli-
chen Kenntniſſe lagen in ſeiner Seele wie ein verworrenes
Chavs durcheinander, als kuͤnftiger Lehrer mußte er aber alles
in ein Syſtem bringen, nichts war ihm leichter, als das, denn
ſeine ganze Seele war Syſtem; das ſtaatswirthſchaftliche Lehr-
gebaͤude entwickelte ſich alſo vor ſeinen Augen ohne Muͤhe,
und er betrachtete das herrliche Ganze mit innigſtem Vergnuͤgen.
Ich verweiſe meine Leſer auf ſeine herausgegebenen vielfaͤltigen
Schriften, um ſie hier nicht mit gelehrten Abhandlungen
aufzuhalten.
Ueber dieſen angenehmen Beſchaͤftigungen vorfloß der Som-
mer, der Herbſt ruͤckte heran, und er erwartete von einem
Tag zum andern ſeinen Beruf. Was geſchah? — in der er-
ſten Septemberwoche erhielt er einen Brief von Eiſenhart,
der die ganze Sache wieder gaͤnzlich vernichtete! — Bei dem
Zug des Churfuͤrſten nach Baiern war das Projekt entſtan-
den, die Kameralakademie nach Mannheim zu verlegen; hier
waren nun Maͤnner von allerhand Gattung, welche Stil-
lings Lehrſtuhl bekleiden ſollten und konnten. Eiſenhart
beklagte ſich und ihn, allein es war nicht zu aͤndern.
Jetzt war ſein Zuſtand voͤllig unbeſchreiblich: er und ſein
armes Weib ſaßen beiſammen auf ihrem Kaͤmmerlein und
weinten um die Wette: nun ſchien Alles verloren zu ſeyn;
er konnte ſich lange nicht beſinnen, nicht erholen, ſo betaͤubt
war er. Endlich warf er ſich hin vor Gott, demuͤthigte ſich
unter ſeine gewaltige Hand, und uͤbergab ſich, ſein Weib und
ſeine zwei Kinder an die vaͤterliche Leitung des Allguͤtigen,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/365>, abgerufen am 24.11.2024.
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