alle seine heiligen Vorsätze, die er je in seinem Leben sich vor- genommen hatte. Um sieben Uhr ging er wieder nach Haus, und aß mit seinen Eltern und Schwestern die süße Milchsuppe und ein Butterbrod. Nachdem sich nun der Vater zuerst, hernach auch der Sohn den Bart abgemacht, die Mutter aber mit den Töchtern sich berathschlaget, wer unter ihnen zu Hause bleiben, und wer in die Kirche gehen sollte, so zog man sich an. Dieses alles war in einer halben Stunde geschehen; so- dann gingen die Töchter vor, darnach Wilhelm, und zu hin- derst der Vater mit seinem dicken Dornenstocke. Wenn der alte Stilling mit seinen Kindern ausging, so mußten sie allemal vor ihm gehen, damit er, wie er zu sagen pflegte, den Gang und die Sitten seiner Kinder sehen, und sie zur Ehr- barkeit anführen könnte.
Nach der Predigt ging Wilhelm wieder nach Licht- hausen, wo er Schulmeister war, und wo auch sein älte- rer verheiratheter Bruder, Johann Stilling, wohnte. In einem andern Nachbarhause hatte der alte Pastor Moritz mit seinen zwo Töchtern ein paar Kammern gemiethet, in welchen er sich aufhielt. Nachdem nun den Nachmittag Wil- helm seinen Bauern eine Predigt in der Kapelle vorgelesen, und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied gesungen, so eilte er, so geschwind als es nur seine gebrechlichen Füße zulassen wollten, nach Herrn Moritzen. Der alte Mann saß eben vor seinem Clavier, und spielte ein geistlich Lied. Sein Schlaf- rock war sehr reinlich und schön gewaschen, nirgend sah man einen Riß, aber wohl hundert Lappen. Neben ihm auf einer Kiste saß Dorothe, ein Mädchen von zwei und zwanzig Jah- ren, ebenfalls sehr reinlich, aber ärmlich, angezogen, die gar anmuthig das Lied zu ihres Vaters Melodie sang. Sie winkte ihrem Wilhelm heiterlächelnd. Er setzte sich zu ihr und sang mit aus ihrem Buch. Sobald das Lied zu Ende war, grüßte der Pastor Wilhelmen und sagte: Schulmeister, ich bin nie vergnügter, als wenn ich spiele und singe. Wie ich noch Pre- diger war, da ließ ich manchmal lange singen, weil unter so viel vereinigten Stimmen das Herz weit über alles Irdische
alle ſeine heiligen Vorſaͤtze, die er je in ſeinem Leben ſich vor- genommen hatte. Um ſieben Uhr ging er wieder nach Haus, und aß mit ſeinen Eltern und Schweſtern die ſuͤße Milchſuppe und ein Butterbrod. Nachdem ſich nun der Vater zuerſt, hernach auch der Sohn den Bart abgemacht, die Mutter aber mit den Toͤchtern ſich berathſchlaget, wer unter ihnen zu Hauſe bleiben, und wer in die Kirche gehen ſollte, ſo zog man ſich an. Dieſes alles war in einer halben Stunde geſchehen; ſo- dann gingen die Toͤchter vor, darnach Wilhelm, und zu hin- derſt der Vater mit ſeinem dicken Dornenſtocke. Wenn der alte Stilling mit ſeinen Kindern ausging, ſo mußten ſie allemal vor ihm gehen, damit er, wie er zu ſagen pflegte, den Gang und die Sitten ſeiner Kinder ſehen, und ſie zur Ehr- barkeit anfuͤhren koͤnnte.
Nach der Predigt ging Wilhelm wieder nach Licht- hauſen, wo er Schulmeiſter war, und wo auch ſein aͤlte- rer verheiratheter Bruder, Johann Stilling, wohnte. In einem andern Nachbarhauſe hatte der alte Paſtor Moritz mit ſeinen zwo Toͤchtern ein paar Kammern gemiethet, in welchen er ſich aufhielt. Nachdem nun den Nachmittag Wil- helm ſeinen Bauern eine Predigt in der Kapelle vorgeleſen, und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied geſungen, ſo eilte er, ſo geſchwind als es nur ſeine gebrechlichen Fuͤße zulaſſen wollten, nach Herrn Moritzen. Der alte Mann ſaß eben vor ſeinem Clavier, und ſpielte ein geiſtlich Lied. Sein Schlaf- rock war ſehr reinlich und ſchoͤn gewaſchen, nirgend ſah man einen Riß, aber wohl hundert Lappen. Neben ihm auf einer Kiſte ſaß Dorothe, ein Maͤdchen von zwei und zwanzig Jah- ren, ebenfalls ſehr reinlich, aber aͤrmlich, angezogen, die gar anmuthig das Lied zu ihres Vaters Melodie ſang. Sie winkte ihrem Wilhelm heiterlaͤchelnd. Er ſetzte ſich zu ihr und ſang mit aus ihrem Buch. Sobald das Lied zu Ende war, gruͤßte der Paſtor Wilhelmen und ſagte: Schulmeiſter, ich bin nie vergnuͤgter, als wenn ich ſpiele und ſinge. Wie ich noch Pre- diger war, da ließ ich manchmal lange ſingen, weil unter ſo viel vereinigten Stimmen das Herz weit uͤber alles Irdiſche
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[32/0040]
alle ſeine heiligen Vorſaͤtze, die er je in ſeinem Leben ſich vor-
genommen hatte. Um ſieben Uhr ging er wieder nach Haus,
und aß mit ſeinen Eltern und Schweſtern die ſuͤße Milchſuppe
und ein Butterbrod. Nachdem ſich nun der Vater zuerſt,
hernach auch der Sohn den Bart abgemacht, die Mutter aber
mit den Toͤchtern ſich berathſchlaget, wer unter ihnen zu Hauſe
bleiben, und wer in die Kirche gehen ſollte, ſo zog man ſich
an. Dieſes alles war in einer halben Stunde geſchehen; ſo-
dann gingen die Toͤchter vor, darnach Wilhelm, und zu hin-
derſt der Vater mit ſeinem dicken Dornenſtocke. Wenn der
alte Stilling mit ſeinen Kindern ausging, ſo mußten ſie
allemal vor ihm gehen, damit er, wie er zu ſagen pflegte, den
Gang und die Sitten ſeiner Kinder ſehen, und ſie zur Ehr-
barkeit anfuͤhren koͤnnte.
Nach der Predigt ging Wilhelm wieder nach Licht-
hauſen, wo er Schulmeiſter war, und wo auch ſein aͤlte-
rer verheiratheter Bruder, Johann Stilling, wohnte.
In einem andern Nachbarhauſe hatte der alte Paſtor Moritz
mit ſeinen zwo Toͤchtern ein paar Kammern gemiethet, in
welchen er ſich aufhielt. Nachdem nun den Nachmittag Wil-
helm ſeinen Bauern eine Predigt in der Kapelle vorgeleſen,
und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied geſungen, ſo eilte
er, ſo geſchwind als es nur ſeine gebrechlichen Fuͤße zulaſſen
wollten, nach Herrn Moritzen. Der alte Mann ſaß eben
vor ſeinem Clavier, und ſpielte ein geiſtlich Lied. Sein Schlaf-
rock war ſehr reinlich und ſchoͤn gewaſchen, nirgend ſah man
einen Riß, aber wohl hundert Lappen. Neben ihm auf einer
Kiſte ſaß Dorothe, ein Maͤdchen von zwei und zwanzig Jah-
ren, ebenfalls ſehr reinlich, aber aͤrmlich, angezogen, die gar
anmuthig das Lied zu ihres Vaters Melodie ſang. Sie winkte
ihrem Wilhelm heiterlaͤchelnd. Er ſetzte ſich zu ihr und ſang
mit aus ihrem Buch. Sobald das Lied zu Ende war, gruͤßte
der Paſtor Wilhelmen und ſagte: Schulmeiſter, ich bin nie
vergnuͤgter, als wenn ich ſpiele und ſinge. Wie ich noch Pre-
diger war, da ließ ich manchmal lange ſingen, weil unter ſo
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/40>, abgerufen am 21.11.2024.
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