"Vorsehung, ich hab' darüber nachgedacht, im Gesthof zu Rei- "chenburg hätten Sie sie ja nicht einmal ansehen, geschweige "mit ihr reden dürfen, hier aber läßt sich Alles machen."
Diese Worte heiterten ihn völlig auf und beruhigten sein Herz.
Nun machte Sophie Anstalt zu einer Zusammenkunft: der andere Consulent, der Herr P...., ein Kollege des Herrn v. St. Florintin, nebst seiner Gattin, waren sehr gute Freunde von der Frau von la Roche und auch von Selma; an diese schrieb sie also ein Billet, in welchem sie ihnen sagte, daß Stilling da sey und sie ersuchte, Selma nebst ihrem Bruder davon zu benachrichtigen, und sie zu bitten, gegen zehn Uhr in ihren Garten zu spazieren, er, der Herr Consu- lent P.... möchte dann Stillingen auch dahin abholen.
Alles das geschah; die Frau Consulentin P.... holte Selma und ihren Bruder, und Herr P.... Stillingen ab.
Wie ihm auf dem Wege zu Muthe war, das weiß Gott. P.... führte ihn also zum Thore hinaus, und linker Hand an die Mauer fort, gegen Mittag, in einen sehr schönen Baumgar- ten mit Nebengeländer und einem schönen Gartenhause. Die Sonne schien am unbewölkten Himmel, und es war einer der schönsten Sommertage.
Bei dem Eintritt sah er dort Selma mit einem gelb- röthlichen seidenen Kleide und einem schwarzen Binsenhut be- kleidet, voller Unruh unter den Bäumen wandeln, sie rang die Hände mit äusserster Gemüthsbewegung; an einem an- dern Ort ging ihr Bruder mit der Frau Consulentin umher. So wie sich Stilling näherte und sich ihnen zeigte, stellten sich alle in Positur, ihn zu empfangen. Nachdem er rund umher ein allgemeines Kompliment gemacht hatte, trat er zu Selma's Bruder. Dieser Herr hatte ein majestätisches, sehr schönes Ansehen, er gefiel ihm bei dem ersten Anblick aus der Maßen, er trat also zu ihm, und sagte: "Herr "Consulent, ich wünsche Sie bald Bruder nennen zu kön- nen!" -- Diese Anrede, die nur Stilling thun konnte, mußte einen Mann von so feiner Erziehung und Weltkenntniß nothwen- dig frappiren; er bückte sich also, lächelte und sagte: Ihr ge- horsamer Diener, Herr Professor! das wird mir eine Ehre seyn.
„Vorſehung, ich hab’ daruͤber nachgedacht, im Geſthof zu Rei- „chenburg haͤtten Sie ſie ja nicht einmal anſehen, geſchweige „mit ihr reden duͤrfen, hier aber laͤßt ſich Alles machen.“
Dieſe Worte heiterten ihn voͤllig auf und beruhigten ſein Herz.
Nun machte Sophie Anſtalt zu einer Zuſammenkunft: der andere Conſulent, der Herr P...., ein Kollege des Herrn v. St. Florintin, nebſt ſeiner Gattin, waren ſehr gute Freunde von der Frau von la Roche und auch von Selma; an dieſe ſchrieb ſie alſo ein Billet, in welchem ſie ihnen ſagte, daß Stilling da ſey und ſie erſuchte, Selma nebſt ihrem Bruder davon zu benachrichtigen, und ſie zu bitten, gegen zehn Uhr in ihren Garten zu ſpazieren, er, der Herr Conſu- lent P.... moͤchte dann Stillingen auch dahin abholen.
Alles das geſchah; die Frau Conſulentin P.... holte Selma und ihren Bruder, und Herr P.... Stillingen ab.
Wie ihm auf dem Wege zu Muthe war, das weiß Gott. P.... fuͤhrte ihn alſo zum Thore hinaus, und linker Hand an die Mauer fort, gegen Mittag, in einen ſehr ſchoͤnen Baumgar- ten mit Nebengelaͤnder und einem ſchoͤnen Gartenhauſe. Die Sonne ſchien am unbewoͤlkten Himmel, und es war einer der ſchoͤnſten Sommertage.
Bei dem Eintritt ſah er dort Selma mit einem gelb- roͤthlichen ſeidenen Kleide und einem ſchwarzen Binſenhut be- kleidet, voller Unruh unter den Baͤumen wandeln, ſie rang die Haͤnde mit aͤuſſerſter Gemuͤthsbewegung; an einem an- dern Ort ging ihr Bruder mit der Frau Conſulentin umher. So wie ſich Stilling naͤherte und ſich ihnen zeigte, ſtellten ſich alle in Poſitur, ihn zu empfangen. Nachdem er rund umher ein allgemeines Kompliment gemacht hatte, trat er zu Selma’s Bruder. Dieſer Herr hatte ein majeſtaͤtiſches, ſehr ſchoͤnes Anſehen, er gefiel ihm bei dem erſten Anblick aus der Maßen, er trat alſo zu ihm, und ſagte: „Herr „Conſulent, ich wuͤnſche Sie bald Bruder nennen zu koͤn- nen!“ — Dieſe Anrede, die nur Stilling thun konnte, mußte einen Mann von ſo feiner Erziehung und Weltkenntniß nothwen- dig frappiren; er buͤckte ſich alſo, laͤchelte und ſagte: Ihr ge- horſamer Diener, Herr Profeſſor! das wird mir eine Ehre ſeyn.
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„Vorſehung, ich hab’ daruͤber nachgedacht, im Geſthof zu Rei-
„chenburg haͤtten Sie ſie ja nicht einmal anſehen, geſchweige
„mit ihr reden duͤrfen, hier aber laͤßt ſich Alles machen.“
Dieſe Worte heiterten ihn voͤllig auf und beruhigten ſein Herz.
Nun machte Sophie Anſtalt zu einer Zuſammenkunft:
der andere Conſulent, der Herr P...., ein Kollege des Herrn
v. St. Florintin, nebſt ſeiner Gattin, waren ſehr gute
Freunde von der Frau von la Roche und auch von Selma;
an dieſe ſchrieb ſie alſo ein Billet, in welchem ſie ihnen ſagte,
daß Stilling da ſey und ſie erſuchte, Selma nebſt ihrem
Bruder davon zu benachrichtigen, und ſie zu bitten, gegen
zehn Uhr in ihren Garten zu ſpazieren, er, der Herr Conſu-
lent P.... moͤchte dann Stillingen auch dahin abholen.
Alles das geſchah; die Frau Conſulentin P.... holte
Selma und ihren Bruder, und Herr P.... Stillingen ab.
Wie ihm auf dem Wege zu Muthe war, das weiß Gott. P....
fuͤhrte ihn alſo zum Thore hinaus, und linker Hand an die
Mauer fort, gegen Mittag, in einen ſehr ſchoͤnen Baumgar-
ten mit Nebengelaͤnder und einem ſchoͤnen Gartenhauſe. Die
Sonne ſchien am unbewoͤlkten Himmel, und es war einer
der ſchoͤnſten Sommertage.
Bei dem Eintritt ſah er dort Selma mit einem gelb-
roͤthlichen ſeidenen Kleide und einem ſchwarzen Binſenhut be-
kleidet, voller Unruh unter den Baͤumen wandeln, ſie rang
die Haͤnde mit aͤuſſerſter Gemuͤthsbewegung; an einem an-
dern Ort ging ihr Bruder mit der Frau Conſulentin umher.
So wie ſich Stilling naͤherte und ſich ihnen zeigte, ſtellten
ſich alle in Poſitur, ihn zu empfangen. Nachdem er rund
umher ein allgemeines Kompliment gemacht hatte, trat er
zu Selma’s Bruder. Dieſer Herr hatte ein majeſtaͤtiſches,
ſehr ſchoͤnes Anſehen, er gefiel ihm bei dem erſten Anblick
aus der Maßen, er trat alſo zu ihm, und ſagte: „Herr
„Conſulent, ich wuͤnſche Sie bald Bruder nennen zu koͤn-
nen!“ — Dieſe Anrede, die nur Stilling thun konnte, mußte
einen Mann von ſo feiner Erziehung und Weltkenntniß nothwen-
dig frappiren; er buͤckte ſich alſo, laͤchelte und ſagte: Ihr ge-
horſamer Diener, Herr Profeſſor! das wird mir eine Ehre ſeyn.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/407>, abgerufen am 22.11.2024.
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