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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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vorbeiströmende Nob überirdisch; damals schritt ein schrecklich
langbeinigter zahmer Storch um den Fuß dieser Pyramiden herum.

In diesem reizenden Aufenthalt hatte Schmerz, wie oben
gemeldet, Stilling, Selma und die Tante auf einen Abend
eingeladen. Nachdem sie nun genug herumgewandelt, alles
besehen hatten, und es nun ganz dunkel geworden war, so
führte man sie in die Felsenkluft, wo sie mit Erfrischungen
bedient wurden, bis es völlig Nacht war; endlich trat Schmerz
herein und sagte: Freunde! kommen Sie doch einmal in den
Garten, um zu sehen, wie die Nacht alles verschönert! Alle
folgten ihm, Stilling ging voran, zu seiner Linken Schmerz
und zur Rechten Selma, die andern folgten nach. So wie
sie in den langen Gang eintraten, überraschte sie ein Anblick
bis zum höchsten Erstaunen; die Urne, oben im Pappelwäld-
chen, war mit vielen Lämpchen erleuchtet, so daß der ganze
Wald wie grünes Gold schimmerte.

Der Schmerz hatte Stillingen seine Urne er-
leuchtet, und neben ihm wandelte nun seine Sa-
lome
*), die Verkünderin eines zukünftigen ho-
hen Friedens
!!!

Schöner! schöner, rührender Gedanke!

Als nun Alle ihre frohen Verwunderungsausrufe geendigt hat-
ten, so begann hinter der Urne aus dem Dunkel des Waldes
her, mit unvergleichlich reinen blasenden Instrumenten, eine
rührende Musik, und zwar die vortreffliche Arie aus Zemire
und Azor
, welche hinter dem Spiegel gesungen wird; zu-
gleich war der Himmel mit Gewitterwolken überzogen, und
es donnerte und blitzte dazwischen. Stilling schluchzte und
weinte, die Scene war für seine Seele und für sein Herz zu
gewaltig, er küßte und umarmte bald Schmerzen, bald
seine Selma, und floß vor Empfindung über.

Jetzt entdeckte er wieder etwas Neues an seiner Braut, sie
fühlte das Alles auch, war auch gerührt; aber sie blieb ganz
ruhig, ihre Empfindung war kein herabstürzender Felsenstrom,
sondern ein ruhig fortrieselnder Bach im Wiesenthal.


*) Salome heißt Friede -- Friedenreich.
Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 27

vorbeiſtroͤmende Nob uͤberirdiſch; damals ſchritt ein ſchrecklich
langbeinigter zahmer Storch um den Fuß dieſer Pyramiden herum.

In dieſem reizenden Aufenthalt hatte Schmerz, wie oben
gemeldet, Stilling, Selma und die Tante auf einen Abend
eingeladen. Nachdem ſie nun genug herumgewandelt, alles
beſehen hatten, und es nun ganz dunkel geworden war, ſo
fuͤhrte man ſie in die Felſenkluft, wo ſie mit Erfriſchungen
bedient wurden, bis es voͤllig Nacht war; endlich trat Schmerz
herein und ſagte: Freunde! kommen Sie doch einmal in den
Garten, um zu ſehen, wie die Nacht alles verſchoͤnert! Alle
folgten ihm, Stilling ging voran, zu ſeiner Linken Schmerz
und zur Rechten Selma, die andern folgten nach. So wie
ſie in den langen Gang eintraten, uͤberraſchte ſie ein Anblick
bis zum hoͤchſten Erſtaunen; die Urne, oben im Pappelwaͤld-
chen, war mit vielen Laͤmpchen erleuchtet, ſo daß der ganze
Wald wie gruͤnes Gold ſchimmerte.

Der Schmerz hatte Stillingen ſeine Urne er-
leuchtet, und neben ihm wandelte nun ſeine Sa-
lome
*), die Verkuͤnderin eines zukuͤnftigen ho-
hen Friedens
!!!

Schoͤner! ſchoͤner, ruͤhrender Gedanke!

Als nun Alle ihre frohen Verwunderungsausrufe geendigt hat-
ten, ſo begann hinter der Urne aus dem Dunkel des Waldes
her, mit unvergleichlich reinen blaſenden Inſtrumenten, eine
ruͤhrende Muſik, und zwar die vortreffliche Arie aus Zemire
und Azor
, welche hinter dem Spiegel geſungen wird; zu-
gleich war der Himmel mit Gewitterwolken uͤberzogen, und
es donnerte und blitzte dazwiſchen. Stilling ſchluchzte und
weinte, die Scene war fuͤr ſeine Seele und fuͤr ſein Herz zu
gewaltig, er kuͤßte und umarmte bald Schmerzen, bald
ſeine Selma, und floß vor Empfindung uͤber.

Jetzt entdeckte er wieder etwas Neues an ſeiner Braut, ſie
fuͤhlte das Alles auch, war auch geruͤhrt; aber ſie blieb ganz
ruhig, ihre Empfindung war kein herabſtuͤrzender Felſenſtrom,
ſondern ein ruhig fortrieſelnder Bach im Wieſenthal.


*) Salome heißt Friede — Friedenreich.
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 27
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[405/0413] vorbeiſtroͤmende Nob uͤberirdiſch; damals ſchritt ein ſchrecklich langbeinigter zahmer Storch um den Fuß dieſer Pyramiden herum. In dieſem reizenden Aufenthalt hatte Schmerz, wie oben gemeldet, Stilling, Selma und die Tante auf einen Abend eingeladen. Nachdem ſie nun genug herumgewandelt, alles beſehen hatten, und es nun ganz dunkel geworden war, ſo fuͤhrte man ſie in die Felſenkluft, wo ſie mit Erfriſchungen bedient wurden, bis es voͤllig Nacht war; endlich trat Schmerz herein und ſagte: Freunde! kommen Sie doch einmal in den Garten, um zu ſehen, wie die Nacht alles verſchoͤnert! Alle folgten ihm, Stilling ging voran, zu ſeiner Linken Schmerz und zur Rechten Selma, die andern folgten nach. So wie ſie in den langen Gang eintraten, uͤberraſchte ſie ein Anblick bis zum hoͤchſten Erſtaunen; die Urne, oben im Pappelwaͤld- chen, war mit vielen Laͤmpchen erleuchtet, ſo daß der ganze Wald wie gruͤnes Gold ſchimmerte. Der Schmerz hatte Stillingen ſeine Urne er- leuchtet, und neben ihm wandelte nun ſeine Sa- lome *), die Verkuͤnderin eines zukuͤnftigen ho- hen Friedens!!! Schoͤner! ſchoͤner, ruͤhrender Gedanke! Als nun Alle ihre frohen Verwunderungsausrufe geendigt hat- ten, ſo begann hinter der Urne aus dem Dunkel des Waldes her, mit unvergleichlich reinen blaſenden Inſtrumenten, eine ruͤhrende Muſik, und zwar die vortreffliche Arie aus Zemire und Azor, welche hinter dem Spiegel geſungen wird; zu- gleich war der Himmel mit Gewitterwolken uͤberzogen, und es donnerte und blitzte dazwiſchen. Stilling ſchluchzte und weinte, die Scene war fuͤr ſeine Seele und fuͤr ſein Herz zu gewaltig, er kuͤßte und umarmte bald Schmerzen, bald ſeine Selma, und floß vor Empfindung uͤber. Jetzt entdeckte er wieder etwas Neues an ſeiner Braut, ſie fuͤhlte das Alles auch, war auch geruͤhrt; aber ſie blieb ganz ruhig, ihre Empfindung war kein herabſtuͤrzender Felſenſtrom, ſondern ein ruhig fortrieſelnder Bach im Wieſenthal. *) Salome heißt Friede — Friedenreich. Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 27

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/413>, abgerufen am 22.11.2024.