aufs höchste, und zugleich erfuhr sie, daß ihre Pathe weit mehr Schulden als Vermögen habe; jetzt hatte sie keine Ur- sache mehr zu bleiben, sie beschloß also, wieder zu ihrer Mut- ter zu ziehen.
Die Bescheidenheit verbietet mir, umständlicher in der Be- schreibung ihrer Leiden und Aufführung zu seyn; dürfte ich es wagen, Alles zu sagen, so würden meine Leser erstaunen. Aber sie lebt, und erröthet schon über das, was ich doch noth- wendig, als Stillings Geschichtschreiber, sagen muß.
Zugleich wurde sie auch noch kränklich; es schien, als wenn ihr der Kummer eine Auszehrung zuziehen würde. Doch be- gab sie sich auf die Reise, nachdem sie zwei Jahre im Ofen des Elends ausgehalten hatte. Zu Cassel aber blieb sie im Hause eines vortrefflichen frommen und rechtschaffenen Freun- des, des Herrn Regierungsraths M... liegen, drei viertel Jahr hielt sie sich daselbst auf, während welcher Zeit sie gänz- lich wieder kurirt wurde.
Nun reiste sie weiter, und kam endlich zu ihrem Bruder nach S..., wo sie sich abermals eine geraume Zeit aufhielt. Hier fanden sich zwar verschiedene Gelegenheiten zur anstän- digen Versorgung, aber Alle waren ihr nicht recht; denn ihre hohen Begriffe von Tugend, von ehelicher Liebe, und von Aus- breitung des Wirkungskreises, fürchtete sie bei allen diesen Anschlägen vereitelt zu sehen; sie wollte also lieber zu ihrer Mutter ziehen.
Nun besuchte sie die Frau von la Roche oft, und sie war auch gerade zugegen, als der verehrungswürdigen Dame er- zählt wurde, daß Stilling daselbst Anschläge zum Heirathen gemacht hätte; Selma bezeigte einen Unwillen über dieses Geschwätz, und verwunderte sich, als sie hörte, daß Stil- ling in der Nähe wohne. Jetzt fiel der Frau von la Roche der Gedanke ein, daß sich Selma für Stilling schicke; sie schwieg also still, und schrieb den ersten Brief an ihn, wor- auf er alsofort antwortete: als sie diese Antwort erhielt, war Selma gerade in Reichenburg. Sophie übergab also Stil- lings Entschluß der Frau Consulentin P.... ihrer beidersei- tigen Freundin. Diese eilte sofort nach Reichenburg, und
aufs hoͤchſte, und zugleich erfuhr ſie, daß ihre Pathe weit mehr Schulden als Vermoͤgen habe; jetzt hatte ſie keine Ur- ſache mehr zu bleiben, ſie beſchloß alſo, wieder zu ihrer Mut- ter zu ziehen.
Die Beſcheidenheit verbietet mir, umſtaͤndlicher in der Be- ſchreibung ihrer Leiden und Auffuͤhrung zu ſeyn; duͤrfte ich es wagen, Alles zu ſagen, ſo wuͤrden meine Leſer erſtaunen. Aber ſie lebt, und erroͤthet ſchon uͤber das, was ich doch noth- wendig, als Stillings Geſchichtſchreiber, ſagen muß.
Zugleich wurde ſie auch noch kraͤnklich; es ſchien, als wenn ihr der Kummer eine Auszehrung zuziehen wuͤrde. Doch be- gab ſie ſich auf die Reiſe, nachdem ſie zwei Jahre im Ofen des Elends ausgehalten hatte. Zu Caſſel aber blieb ſie im Hauſe eines vortrefflichen frommen und rechtſchaffenen Freun- des, des Herrn Regierungsraths M… liegen, drei viertel Jahr hielt ſie ſich daſelbſt auf, waͤhrend welcher Zeit ſie gaͤnz- lich wieder kurirt wurde.
Nun reiste ſie weiter, und kam endlich zu ihrem Bruder nach S…, wo ſie ſich abermals eine geraume Zeit aufhielt. Hier fanden ſich zwar verſchiedene Gelegenheiten zur anſtaͤn- digen Verſorgung, aber Alle waren ihr nicht recht; denn ihre hohen Begriffe von Tugend, von ehelicher Liebe, und von Aus- breitung des Wirkungskreiſes, fuͤrchtete ſie bei allen dieſen Anſchlaͤgen vereitelt zu ſehen; ſie wollte alſo lieber zu ihrer Mutter ziehen.
Nun beſuchte ſie die Frau von la Roche oft, und ſie war auch gerade zugegen, als der verehrungswuͤrdigen Dame er- zaͤhlt wurde, daß Stilling daſelbſt Anſchlaͤge zum Heirathen gemacht haͤtte; Selma bezeigte einen Unwillen uͤber dieſes Geſchwaͤtz, und verwunderte ſich, als ſie hoͤrte, daß Stil- ling in der Naͤhe wohne. Jetzt fiel der Frau von la Roche der Gedanke ein, daß ſich Selma fuͤr Stilling ſchicke; ſie ſchwieg alſo ſtill, und ſchrieb den erſten Brief an ihn, wor- auf er alſofort antwortete: als ſie dieſe Antwort erhielt, war Selma gerade in Reichenburg. Sophie uͤbergab alſo Stil- lings Entſchluß der Frau Conſulentin P.... ihrer beiderſei- tigen Freundin. Dieſe eilte ſofort nach Reichenburg, und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0418"n="410"/>
aufs hoͤchſte, und zugleich erfuhr ſie, daß ihre Pathe weit<lb/>
mehr Schulden als Vermoͤgen habe; jetzt hatte ſie keine Ur-<lb/>ſache mehr zu bleiben, ſie beſchloß alſo, wieder zu ihrer Mut-<lb/>
ter zu ziehen.</p><lb/><p>Die Beſcheidenheit verbietet mir, umſtaͤndlicher in der Be-<lb/>ſchreibung ihrer Leiden und Auffuͤhrung zu ſeyn; duͤrfte ich<lb/>
es wagen, Alles zu ſagen, ſo wuͤrden meine Leſer erſtaunen.<lb/>
Aber ſie lebt, und erroͤthet ſchon uͤber das, was ich doch noth-<lb/>
wendig, als <hirendition="#g">Stillings</hi> Geſchichtſchreiber, ſagen muß.</p><lb/><p>Zugleich wurde ſie auch noch kraͤnklich; es ſchien, als wenn<lb/>
ihr der Kummer eine Auszehrung zuziehen wuͤrde. Doch be-<lb/>
gab ſie ſich auf die Reiſe, nachdem ſie zwei Jahre im Ofen<lb/>
des Elends ausgehalten hatte. Zu <hirendition="#g">Caſſel</hi> aber blieb ſie im<lb/>
Hauſe eines vortrefflichen frommen und rechtſchaffenen Freun-<lb/>
des, des Herrn Regierungsraths M… liegen, drei viertel<lb/>
Jahr hielt ſie ſich daſelbſt auf, waͤhrend welcher Zeit ſie gaͤnz-<lb/>
lich wieder kurirt wurde.</p><lb/><p>Nun reiste ſie weiter, und kam endlich zu ihrem Bruder<lb/>
nach S…, wo ſie ſich abermals eine geraume Zeit aufhielt.<lb/>
Hier fanden ſich zwar verſchiedene Gelegenheiten zur anſtaͤn-<lb/>
digen Verſorgung, aber Alle waren ihr nicht recht; denn ihre<lb/>
hohen Begriffe von Tugend, von ehelicher Liebe, und von Aus-<lb/>
breitung des Wirkungskreiſes, fuͤrchtete ſie bei allen dieſen<lb/>
Anſchlaͤgen vereitelt zu ſehen; ſie wollte alſo lieber zu ihrer<lb/>
Mutter ziehen.</p><lb/><p>Nun beſuchte ſie die Frau von la Roche oft, und ſie war<lb/>
auch gerade zugegen, als der verehrungswuͤrdigen Dame er-<lb/>
zaͤhlt wurde, daß <hirendition="#g">Stilling</hi> daſelbſt Anſchlaͤge zum Heirathen<lb/>
gemacht haͤtte; <hirendition="#g">Selma</hi> bezeigte einen Unwillen uͤber dieſes<lb/>
Geſchwaͤtz, und verwunderte ſich, als ſie hoͤrte, daß <hirendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> in der Naͤhe wohne. Jetzt fiel der Frau von la Roche<lb/>
der Gedanke ein, daß ſich <hirendition="#g">Selma</hi> fuͤr <hirendition="#g">Stilling</hi>ſchicke;<lb/>ſie ſchwieg alſo ſtill, und ſchrieb den erſten Brief an ihn, wor-<lb/>
auf er alſofort antwortete: als ſie dieſe Antwort erhielt, war<lb/><hirendition="#g">Selma</hi> gerade in Reichenburg. <hirendition="#g">Sophie</hi> uͤbergab alſo <hirendition="#g">Stil-<lb/>
lings</hi> Entſchluß der Frau Conſulentin P.... ihrer beiderſei-<lb/>
tigen Freundin. Dieſe eilte ſofort nach Reichenburg, und<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[410/0418]
aufs hoͤchſte, und zugleich erfuhr ſie, daß ihre Pathe weit
mehr Schulden als Vermoͤgen habe; jetzt hatte ſie keine Ur-
ſache mehr zu bleiben, ſie beſchloß alſo, wieder zu ihrer Mut-
ter zu ziehen.
Die Beſcheidenheit verbietet mir, umſtaͤndlicher in der Be-
ſchreibung ihrer Leiden und Auffuͤhrung zu ſeyn; duͤrfte ich
es wagen, Alles zu ſagen, ſo wuͤrden meine Leſer erſtaunen.
Aber ſie lebt, und erroͤthet ſchon uͤber das, was ich doch noth-
wendig, als Stillings Geſchichtſchreiber, ſagen muß.
Zugleich wurde ſie auch noch kraͤnklich; es ſchien, als wenn
ihr der Kummer eine Auszehrung zuziehen wuͤrde. Doch be-
gab ſie ſich auf die Reiſe, nachdem ſie zwei Jahre im Ofen
des Elends ausgehalten hatte. Zu Caſſel aber blieb ſie im
Hauſe eines vortrefflichen frommen und rechtſchaffenen Freun-
des, des Herrn Regierungsraths M… liegen, drei viertel
Jahr hielt ſie ſich daſelbſt auf, waͤhrend welcher Zeit ſie gaͤnz-
lich wieder kurirt wurde.
Nun reiste ſie weiter, und kam endlich zu ihrem Bruder
nach S…, wo ſie ſich abermals eine geraume Zeit aufhielt.
Hier fanden ſich zwar verſchiedene Gelegenheiten zur anſtaͤn-
digen Verſorgung, aber Alle waren ihr nicht recht; denn ihre
hohen Begriffe von Tugend, von ehelicher Liebe, und von Aus-
breitung des Wirkungskreiſes, fuͤrchtete ſie bei allen dieſen
Anſchlaͤgen vereitelt zu ſehen; ſie wollte alſo lieber zu ihrer
Mutter ziehen.
Nun beſuchte ſie die Frau von la Roche oft, und ſie war
auch gerade zugegen, als der verehrungswuͤrdigen Dame er-
zaͤhlt wurde, daß Stilling daſelbſt Anſchlaͤge zum Heirathen
gemacht haͤtte; Selma bezeigte einen Unwillen uͤber dieſes
Geſchwaͤtz, und verwunderte ſich, als ſie hoͤrte, daß Stil-
ling in der Naͤhe wohne. Jetzt fiel der Frau von la Roche
der Gedanke ein, daß ſich Selma fuͤr Stilling ſchicke;
ſie ſchwieg alſo ſtill, und ſchrieb den erſten Brief an ihn, wor-
auf er alſofort antwortete: als ſie dieſe Antwort erhielt, war
Selma gerade in Reichenburg. Sophie uͤbergab alſo Stil-
lings Entſchluß der Frau Conſulentin P.... ihrer beiderſei-
tigen Freundin. Dieſe eilte ſofort nach Reichenburg, und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/418>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.