traf des Morgens früh ihre Freundin noch im Bett an, ihre Augen waren naß von Thränen, denn heute war ihr Geburts- tag, und sie hatte gebetet und Gott gedankt.
Nun überreichte ihr die Consulentin Stillings Brief nebst einem Schreiben von Sophien, in welchem sie ihr mütterlichen Rath gab. Selma schlug diese Gelegenheit nicht aus, und sie erlaubte Stillingen zu kommen.
Das Uebrige wissen meine Leser.
Endlich waren alle Sachen gehörig berichtigt, und Stil- ling reiste den 14. August 1782 nach Kreuznach, um sich mit seiner Selma trauen zu lassen. Bei seiner Ankunft merkte er die erste Zärtlichkeit an ihr; sie fing nun an, ihn nicht blos zu schätzen, sondern sie liebte ihn auch wirklich. Des folgenden Tages, als den 16., geschah die Einsegnung im Hause der Tante, in Gegenwart einiger wenigen Freunde, durch den Herrn Inspektor W..., welcher ein Freund Stil- lings, und übrigens ein vortrefflicher Mann war; die Rede, welche er bei dieser Gelegenheit hielt, ist in die gedruckte Samm- lung seiner Predigten mit eingerückt worden; dem ungeachtet aber steht sie auch hier am rechten Orte.
Sie lautet von Wort zu Wort also:
"Es sind der Vergnügungen viele, womit die ewige Vor- sicht den Lebensweg des Mannes bestreuet, der Sinn und Gefühl für die Freuden der Tugend hat; wenn wir inzwi- schen alle diese Vergnügungen gegen einander abwiegen, und Geist und Herz den Ausspruch thun lassen, welche von ihnen den Vorzug verdienen, werden sie schnell und sicher für die- jenigen entscheiden, wodurch die süßen und edlen Triebe der Geselligkeit befriedigt werden, welche der Schöpfer gegen uns verwandte Mitgeschöpfe, in unsere Seele gepflanzet hat. Ohne einen Freund zu haben, dem wir unser ganzes Herz öffnen, und in dessen Schoß wir unsere allergeyeimsten Sorgen als ein unverletzliches Heiligthum niederlegen dürfen, der an un- sern glücklichen Begebenheiten Antheil nimmt, unsere Beküm- mernisse mit uns theilet, durch sein Beispiel uns zu edlen
traf des Morgens fruͤh ihre Freundin noch im Bett an, ihre Augen waren naß von Thraͤnen, denn heute war ihr Geburts- tag, und ſie hatte gebetet und Gott gedankt.
Nun uͤberreichte ihr die Conſulentin Stillings Brief nebſt einem Schreiben von Sophien, in welchem ſie ihr muͤtterlichen Rath gab. Selma ſchlug dieſe Gelegenheit nicht aus, und ſie erlaubte Stillingen zu kommen.
Das Uebrige wiſſen meine Leſer.
Endlich waren alle Sachen gehoͤrig berichtigt, und Stil- ling reiste den 14. Auguſt 1782 nach Kreuznach, um ſich mit ſeiner Selma trauen zu laſſen. Bei ſeiner Ankunft merkte er die erſte Zaͤrtlichkeit an ihr; ſie fing nun an, ihn nicht blos zu ſchaͤtzen, ſondern ſie liebte ihn auch wirklich. Des folgenden Tages, als den 16., geſchah die Einſegnung im Hauſe der Tante, in Gegenwart einiger wenigen Freunde, durch den Herrn Inſpektor W…, welcher ein Freund Stil- lings, und uͤbrigens ein vortrefflicher Mann war; die Rede, welche er bei dieſer Gelegenheit hielt, iſt in die gedruckte Samm- lung ſeiner Predigten mit eingeruͤckt worden; dem ungeachtet aber ſteht ſie auch hier am rechten Orte.
Sie lautet von Wort zu Wort alſo:
„Es ſind der Vergnuͤgungen viele, womit die ewige Vor- ſicht den Lebensweg des Mannes beſtreuet, der Sinn und Gefuͤhl fuͤr die Freuden der Tugend hat; wenn wir inzwi- ſchen alle dieſe Vergnuͤgungen gegen einander abwiegen, und Geiſt und Herz den Ausſpruch thun laſſen, welche von ihnen den Vorzug verdienen, werden ſie ſchnell und ſicher fuͤr die- jenigen entſcheiden, wodurch die ſuͤßen und edlen Triebe der Geſelligkeit befriedigt werden, welche der Schoͤpfer gegen uns verwandte Mitgeſchoͤpfe, in unſere Seele gepflanzet hat. Ohne einen Freund zu haben, dem wir unſer ganzes Herz oͤffnen, und in deſſen Schoß wir unſere allergeyeimſten Sorgen als ein unverletzliches Heiligthum niederlegen duͤrfen, der an un- ſern gluͤcklichen Begebenheiten Antheil nimmt, unſere Bekuͤm- merniſſe mit uns theilet, durch ſein Beiſpiel uns zu edlen
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traf des Morgens fruͤh ihre Freundin noch im Bett an, ihre
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tag, und ſie hatte gebetet und Gott gedankt.
Nun uͤberreichte ihr die Conſulentin Stillings Brief
nebſt einem Schreiben von Sophien, in welchem ſie ihr
muͤtterlichen Rath gab. Selma ſchlug dieſe Gelegenheit nicht
aus, und ſie erlaubte Stillingen zu kommen.
Das Uebrige wiſſen meine Leſer.
Endlich waren alle Sachen gehoͤrig berichtigt, und Stil-
ling reiste den 14. Auguſt 1782 nach Kreuznach, um
ſich mit ſeiner Selma trauen zu laſſen. Bei ſeiner Ankunft
merkte er die erſte Zaͤrtlichkeit an ihr; ſie fing nun an, ihn
nicht blos zu ſchaͤtzen, ſondern ſie liebte ihn auch wirklich.
Des folgenden Tages, als den 16., geſchah die Einſegnung
im Hauſe der Tante, in Gegenwart einiger wenigen Freunde,
durch den Herrn Inſpektor W…, welcher ein Freund Stil-
lings, und uͤbrigens ein vortrefflicher Mann war; die Rede,
welche er bei dieſer Gelegenheit hielt, iſt in die gedruckte Samm-
lung ſeiner Predigten mit eingeruͤckt worden; dem ungeachtet
aber ſteht ſie auch hier am rechten Orte.
Sie lautet von Wort zu Wort alſo:
„Es ſind der Vergnuͤgungen viele, womit die ewige Vor-
ſicht den Lebensweg des Mannes beſtreuet, der Sinn und
Gefuͤhl fuͤr die Freuden der Tugend hat; wenn wir inzwi-
ſchen alle dieſe Vergnuͤgungen gegen einander abwiegen, und
Geiſt und Herz den Ausſpruch thun laſſen, welche von ihnen
den Vorzug verdienen, werden ſie ſchnell und ſicher fuͤr die-
jenigen entſcheiden, wodurch die ſuͤßen und edlen Triebe der
Geſelligkeit befriedigt werden, welche der Schoͤpfer gegen uns
verwandte Mitgeſchoͤpfe, in unſere Seele gepflanzet hat. Ohne
einen Freund zu haben, dem wir unſer ganzes Herz oͤffnen,
und in deſſen Schoß wir unſere allergeyeimſten Sorgen als
ein unverletzliches Heiligthum niederlegen duͤrfen, der an un-
ſern gluͤcklichen Begebenheiten Antheil nimmt, unſere Bekuͤm-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/419>, abgerufen am 22.11.2024.
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