die dem Auge eines für Natur und Kunst fühlbaren Geistes vorzügliche Nahrung geben konnten; die ganze Gesellschaft war daher auch ausnehmend vergnügt. Des Mittags speisten sie mitten im Niederwald in einem Jägerhause, und nach Tische wurde der Nachmittag mit Spazierengehen zugebracht; die mancherlei schönen Parthieen, Aussichten und Gegenstände erquickten Auge und Herz. Gegen fünf Uhr wurde die Rück- reise wieder angetreten, die Kutschen fuhren mit den Frauen- zimmern den Berg herab, und die Männer gingen zu Fuß. Nun beschlossen diese, zu Rüdesheim einzutreten und noch eine Flasche von dem hier wachsenden edlen Wein auf Freund- schaft zu trinken; mittlerweile sollten sich die Damen übersetzen lassen, und zu Bingen warten, bis sie auch in einem Nachen nachkommen würden. Dieß geschah; während der Zeit aber entstand ein Sturm, die Wellen gingen hoch, und es fing schon an dunkel zu werden, besonders da sich auch der Him- mel mit schwarzen Wolken überzog. Sie setzten sich dem un- geachtet nach ausgeleerter Flasche in den Nachen, und schwank- ten in lauter Todesängsten auf den rauschenden Wellen, unter dem Brausen des Stürmwinds, mit genauer Noth glücklich hinüber.
Da standen sie nun alle Drei zu Bingen am Ufer; um ihre Geliebten zu empfangen, diese aber hielten noch mit ih- ren Kutschen auf der andern Seite. Endlich fuhren sie auf die Nöh -- und die Nöh stieß ab. Aber, großer Gott! wie ward ihnen, als die Nöh nicht queer über, sondern den Fluß hinab ging! -- Der Strom wüthete, und kaum eine halbe Viertelstunde weiter hinab brüllte das Gewässer im Bin- gerloch, wie ein entfernter Donner: auf diesen schreckhaften Ort trieb die Nöh zu -- und das Alles bei Anbruch der Nacht -- Schmerz, W... und Stilling standen da, wie an Händen und Füßen gelähmt, ihre Angesichter sahen aus, wie das Antlitz armer Sünder, denen man so eben das Todesurtheil vorgelesen hat; ganz Bingen lief zusammen, alles lärmte, und Schiffer fuhren mit einem großen Boot ab, und den Unglücklichen nach.
Indessen schwamm die Nöh mit den Kutschen immer weiter
die dem Auge eines fuͤr Natur und Kunſt fuͤhlbaren Geiſtes vorzuͤgliche Nahrung geben konnten; die ganze Geſellſchaft war daher auch ausnehmend vergnuͤgt. Des Mittags ſpeisten ſie mitten im Niederwald in einem Jaͤgerhauſe, und nach Tiſche wurde der Nachmittag mit Spazierengehen zugebracht; die mancherlei ſchoͤnen Parthieen, Ausſichten und Gegenſtaͤnde erquickten Auge und Herz. Gegen fuͤnf Uhr wurde die Ruͤck- reiſe wieder angetreten, die Kutſchen fuhren mit den Frauen- zimmern den Berg herab, und die Maͤnner gingen zu Fuß. Nun beſchloſſen dieſe, zu Ruͤdesheim einzutreten und noch eine Flaſche von dem hier wachſenden edlen Wein auf Freund- ſchaft zu trinken; mittlerweile ſollten ſich die Damen uͤberſetzen laſſen, und zu Bingen warten, bis ſie auch in einem Nachen nachkommen wuͤrden. Dieß geſchah; waͤhrend der Zeit aber entſtand ein Sturm, die Wellen gingen hoch, und es fing ſchon an dunkel zu werden, beſonders da ſich auch der Him- mel mit ſchwarzen Wolken uͤberzog. Sie ſetzten ſich dem un- geachtet nach ausgeleerter Flaſche in den Nachen, und ſchwank- ten in lauter Todesaͤngſten auf den rauſchenden Wellen, unter dem Brauſen des Stuͤrmwinds, mit genauer Noth gluͤcklich hinuͤber.
Da ſtanden ſie nun alle Drei zu Bingen am Ufer; um ihre Geliebten zu empfangen, dieſe aber hielten noch mit ih- ren Kutſchen auf der andern Seite. Endlich fuhren ſie auf die Noͤh — und die Noͤh ſtieß ab. Aber, großer Gott! wie ward ihnen, als die Noͤh nicht queer uͤber, ſondern den Fluß hinab ging! — Der Strom wuͤthete, und kaum eine halbe Viertelſtunde weiter hinab bruͤllte das Gewaͤſſer im Bin- gerloch, wie ein entfernter Donner: auf dieſen ſchreckhaften Ort trieb die Noͤh zu — und das Alles bei Anbruch der Nacht — Schmerz, W… und Stilling ſtanden da, wie an Haͤnden und Fuͤßen gelaͤhmt, ihre Angeſichter ſahen aus, wie das Antlitz armer Suͤnder, denen man ſo eben das Todesurtheil vorgeleſen hat; ganz Bingen lief zuſammen, alles laͤrmte, und Schiffer fuhren mit einem großen Boot ab, und den Ungluͤcklichen nach.
Indeſſen ſchwamm die Noͤh mit den Kutſchen immer weiter
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die dem Auge eines fuͤr Natur und Kunſt fuͤhlbaren Geiſtes
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war daher auch ausnehmend vergnuͤgt. Des Mittags ſpeisten
ſie mitten im Niederwald in einem Jaͤgerhauſe, und nach
Tiſche wurde der Nachmittag mit Spazierengehen zugebracht;
die mancherlei ſchoͤnen Parthieen, Ausſichten und Gegenſtaͤnde
erquickten Auge und Herz. Gegen fuͤnf Uhr wurde die Ruͤck-
reiſe wieder angetreten, die Kutſchen fuhren mit den Frauen-
zimmern den Berg herab, und die Maͤnner gingen zu Fuß.
Nun beſchloſſen dieſe, zu Ruͤdesheim einzutreten und noch
eine Flaſche von dem hier wachſenden edlen Wein auf Freund-
ſchaft zu trinken; mittlerweile ſollten ſich die Damen uͤberſetzen
laſſen, und zu Bingen warten, bis ſie auch in einem Nachen
nachkommen wuͤrden. Dieß geſchah; waͤhrend der Zeit aber
entſtand ein Sturm, die Wellen gingen hoch, und es fing
ſchon an dunkel zu werden, beſonders da ſich auch der Him-
mel mit ſchwarzen Wolken uͤberzog. Sie ſetzten ſich dem un-
geachtet nach ausgeleerter Flaſche in den Nachen, und ſchwank-
ten in lauter Todesaͤngſten auf den rauſchenden Wellen, unter
dem Brauſen des Stuͤrmwinds, mit genauer Noth gluͤcklich
hinuͤber.
Da ſtanden ſie nun alle Drei zu Bingen am Ufer; um
ihre Geliebten zu empfangen, dieſe aber hielten noch mit ih-
ren Kutſchen auf der andern Seite. Endlich fuhren ſie auf
die Noͤh — und die Noͤh ſtieß ab. Aber, großer Gott!
wie ward ihnen, als die Noͤh nicht queer uͤber, ſondern den
Fluß hinab ging! — Der Strom wuͤthete, und kaum eine
halbe Viertelſtunde weiter hinab bruͤllte das Gewaͤſſer im Bin-
gerloch, wie ein entfernter Donner: auf dieſen ſchreckhaften
Ort trieb die Noͤh zu — und das Alles bei Anbruch der
Nacht — Schmerz, W… und Stilling ſtanden da, wie
an Haͤnden und Fuͤßen gelaͤhmt, ihre Angeſichter ſahen aus,
wie das Antlitz armer Suͤnder, denen man ſo eben das
Todesurtheil vorgeleſen hat; ganz Bingen lief zuſammen,
alles laͤrmte, und Schiffer fuhren mit einem großen Boot ab,
und den Ungluͤcklichen nach.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/425>, abgerufen am 22.11.2024.
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