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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Selma brachte, und auch sie Schwester nannte, da sank sie
ihm in die Arme.

Stilling verlebte einige selige Tage bei Bruder Hoh-
bach
und Schwester Sophie. Die wechselseitige Bruder-
und Schwesterliebe ist unwandelbar auch jenseits des Grabes!

Schwester Sophie begleitete ihren Schwager nach Wal-
lerstein
zu ihrem Bruder; zu Oettingen fuhren sie am
Kirchhof vorbei, wo Selma's und Sophiens Vater ruht,
dem jedes einige Thränen weihte; dieß geschah auch zu Bal-
dingen
am Grabe der Mutter. Der Bruder und seine
Gattin freuten sich des Besuchs.

Sobald der Fürst Kraft Ernst von Oettingen-Wal-
lerstein Stillings
Ankunft erfahren hatte, lud er ihn ein,
so lange er sich dort aufhalten würde, an der fürstlichen Ta-
fel zu speisen; dieß Anerbieten nahm er an, aber nur Mit-
tags, weil er die Abendstunden gern im Freundeskreise zubrin-
gen wollte. Das Land des Fürsten gehört unter die ange-
nehmsten in Deutschland: denn das Rieß ist eine Ebene,
die etliche Meilen im Durchschnitt hat, von der Merniz
durchwässert, und ringsum von hohen Gebirgen umkreist wird.
Auf dem mäßigen Hügel, an dessen Fuß Wallerstein liegt,
übersieht man den ganzen Garten Gottes; in der Nähe die
Reichsstadt Nördlingen, und eine unzählbare Menge Städte
und Dörfer.

Stillings Aufenthalt allhier wurde dadurch wohlthätig,
daß er Augenkranken diente; er operirte den Präsidenten von
Schade
; die Kur war glücklich, der würdige Mann erhielt
sein Gesicht wieder. Zu dieser Zeit saß der, durchs graue
Ungeheuer
, und die hyperboreischen Briefe bekannte
Weckherlin auf einer Bergfeste im Fürstenthum Waller-
stein
gefangen: er hatte den Magistrat der Reichsstadt Nörd-
lingen
auf eine muthwillige Art gröblich beleidigt; dieser
requirirte dem Fürsten von Wallerstein, in dessen Gebiet
sich Weckherlin aufhielt, und forderte Genugthuung; der
Fürst ließ ihn also beim Kopf nehmen, und auf jenes Berg-
schloß bringen. Der Bruder des Fürsten, Graf Franz Lud-
wig
, hätte dem Gefangenen gern seine Freiheit wieder ver-

Selma brachte, und auch ſie Schweſter nannte, da ſank ſie
ihm in die Arme.

Stilling verlebte einige ſelige Tage bei Bruder Hoh-
bach
und Schweſter Sophie. Die wechſelſeitige Bruder-
und Schweſterliebe iſt unwandelbar auch jenſeits des Grabes!

Schweſter Sophie begleitete ihren Schwager nach Wal-
lerſtein
zu ihrem Bruder; zu Oettingen fuhren ſie am
Kirchhof vorbei, wo Selma’s und Sophiens Vater ruht,
dem jedes einige Thraͤnen weihte; dieß geſchah auch zu Bal-
dingen
am Grabe der Mutter. Der Bruder und ſeine
Gattin freuten ſich des Beſuchs.

Sobald der Fuͤrſt Kraft Ernſt von Oettingen-Wal-
lerſtein Stillings
Ankunft erfahren hatte, lud er ihn ein,
ſo lange er ſich dort aufhalten wuͤrde, an der fuͤrſtlichen Ta-
fel zu ſpeiſen; dieß Anerbieten nahm er an, aber nur Mit-
tags, weil er die Abendſtunden gern im Freundeskreiſe zubrin-
gen wollte. Das Land des Fuͤrſten gehoͤrt unter die ange-
nehmſten in Deutſchland: denn das Rieß iſt eine Ebene,
die etliche Meilen im Durchſchnitt hat, von der Merniz
durchwaͤſſert, und ringsum von hohen Gebirgen umkreist wird.
Auf dem maͤßigen Huͤgel, an deſſen Fuß Wallerſtein liegt,
uͤberſieht man den ganzen Garten Gottes; in der Naͤhe die
Reichsſtadt Noͤrdlingen, und eine unzaͤhlbare Menge Staͤdte
und Doͤrfer.

Stillings Aufenthalt allhier wurde dadurch wohlthaͤtig,
daß er Augenkranken diente; er operirte den Praͤſidenten von
Schade
; die Kur war gluͤcklich, der wuͤrdige Mann erhielt
ſein Geſicht wieder. Zu dieſer Zeit ſaß der, durchs graue
Ungeheuer
, und die hyperboreiſchen Briefe bekannte
Weckherlin auf einer Bergfeſte im Fuͤrſtenthum Waller-
ſtein
gefangen: er hatte den Magiſtrat der Reichsſtadt Noͤrd-
lingen
auf eine muthwillige Art groͤblich beleidigt; dieſer
requirirte dem Fuͤrſten von Wallerſtein, in deſſen Gebiet
ſich Weckherlin aufhielt, und forderte Genugthuung; der
Fuͤrſt ließ ihn alſo beim Kopf nehmen, und auf jenes Berg-
ſchloß bringen. Der Bruder des Fuͤrſten, Graf Franz Lud-
wig
, haͤtte dem Gefangenen gern ſeine Freiheit wieder ver-

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[441/0449] Selma brachte, und auch ſie Schweſter nannte, da ſank ſie ihm in die Arme. Stilling verlebte einige ſelige Tage bei Bruder Hoh- bach und Schweſter Sophie. Die wechſelſeitige Bruder- und Schweſterliebe iſt unwandelbar auch jenſeits des Grabes! Schweſter Sophie begleitete ihren Schwager nach Wal- lerſtein zu ihrem Bruder; zu Oettingen fuhren ſie am Kirchhof vorbei, wo Selma’s und Sophiens Vater ruht, dem jedes einige Thraͤnen weihte; dieß geſchah auch zu Bal- dingen am Grabe der Mutter. Der Bruder und ſeine Gattin freuten ſich des Beſuchs. Sobald der Fuͤrſt Kraft Ernſt von Oettingen-Wal- lerſtein Stillings Ankunft erfahren hatte, lud er ihn ein, ſo lange er ſich dort aufhalten wuͤrde, an der fuͤrſtlichen Ta- fel zu ſpeiſen; dieß Anerbieten nahm er an, aber nur Mit- tags, weil er die Abendſtunden gern im Freundeskreiſe zubrin- gen wollte. Das Land des Fuͤrſten gehoͤrt unter die ange- nehmſten in Deutſchland: denn das Rieß iſt eine Ebene, die etliche Meilen im Durchſchnitt hat, von der Merniz durchwaͤſſert, und ringsum von hohen Gebirgen umkreist wird. Auf dem maͤßigen Huͤgel, an deſſen Fuß Wallerſtein liegt, uͤberſieht man den ganzen Garten Gottes; in der Naͤhe die Reichsſtadt Noͤrdlingen, und eine unzaͤhlbare Menge Staͤdte und Doͤrfer. Stillings Aufenthalt allhier wurde dadurch wohlthaͤtig, daß er Augenkranken diente; er operirte den Praͤſidenten von Schade; die Kur war gluͤcklich, der wuͤrdige Mann erhielt ſein Geſicht wieder. Zu dieſer Zeit ſaß der, durchs graue Ungeheuer, und die hyperboreiſchen Briefe bekannte Weckherlin auf einer Bergfeſte im Fuͤrſtenthum Waller- ſtein gefangen: er hatte den Magiſtrat der Reichsſtadt Noͤrd- lingen auf eine muthwillige Art groͤblich beleidigt; dieſer requirirte dem Fuͤrſten von Wallerſtein, in deſſen Gebiet ſich Weckherlin aufhielt, und forderte Genugthuung; der Fuͤrſt ließ ihn alſo beim Kopf nehmen, und auf jenes Berg- ſchloß bringen. Der Bruder des Fuͤrſten, Graf Franz Lud- wig, haͤtte dem Gefangenen gern ſeine Freiheit wieder ver-

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/449>, abgerufen am 22.11.2024.