such, auch Er mußte oft neben andern Professoren und Freun- den bei Ihm speisen; so viel ist gewiß, daß Stilling in Raschmanns Umgang Vergnügen fand, so sehr sie auch in ihrer religiösen Denkungsart verschieden waren: denn Rasch- manns Kenntnisse waren sehr ausgebreitet und ausgebildet, und im Umgang mit Leuten, die nicht unter ihm standen, war er sehr angenehm und äußerst unterhaltend.
In diesem Sommer 1788 kam auch der Kirchenrath Mieg von Heidelberg mit seiner lieben Gattin nach Marburg, um dortige Freunde und Stilling und Selma zu besu- chen. Die Redlichkeit, rastlose Thätigkeit, um Gutes zu wir- ken, und die gefühlvolle wohlthätige Seele Miegs, hatte auf Stilling einen liebevollen Eindruck gemacht, so daß beide herzliche Freunde waren; und in eben dem Verhältniß stan- den auch die beiden Frauen gegen einander. Dieser Besuch knüpfte das Band noch fester; aber er hatte außerdem noch eine wichtige Wirkung auf Stillings Denkungsart und philosophisches System.
Stilling war durch die Leibnitz-Wolfische Philoso- phie in die schwere Gefangenschaft des Determinismus gera- then -- über zwanzig Jahre lang hatte er mit Gebet und Flehen gegen diesen Riesen gekämpft, ohne ihn bezwingen zu können. Er hat zwar immer die Freiheit des Willens und der menschlichen Handlungen in seinen Schriften behauptet, und gegen alle Einwürfe seiner Vernunft auch geglaubt; er hatte auch immer gebetet, obgleich jener Riese ihm immer ins Ohr lispelte: dein Beten hilft nicht, denn was Gott in seinem Rathschluß beschlossen hat, das geschieht, du magst beten oder nicht. Dem allem ungeachtet glaubte und betete Stilling immer fort, aber ohne Licht und Trost, selbst seine Gebets- Erhörungen trösteten ihn nicht: denn der Riese sagte, es sey bloßer Zufall. -- Ach Gott! -- diese Anfechtung war schreck- lich! Die ganze Wonne der Religion, ihre Verheißungen die- ses und des zukünftigen Lebens -- dieser einzige Trost im Le- ben, Leiden und Sterben, wird zum täuschenden Dunstbild, sobald man dem Determinismus Gehör gibt. Mieg wurde von ohngefähr der Retter Stillings aus dieser Gefangen-
ſuch, auch Er mußte oft neben andern Profeſſoren und Freun- den bei Ihm ſpeiſen; ſo viel iſt gewiß, daß Stilling in Raſchmanns Umgang Vergnuͤgen fand, ſo ſehr ſie auch in ihrer religioͤſen Denkungsart verſchieden waren: denn Raſch- manns Kenntniſſe waren ſehr ausgebreitet und ausgebildet, und im Umgang mit Leuten, die nicht unter ihm ſtanden, war er ſehr angenehm und aͤußerſt unterhaltend.
In dieſem Sommer 1788 kam auch der Kirchenrath Mieg von Heidelberg mit ſeiner lieben Gattin nach Marburg, um dortige Freunde und Stilling und Selma zu beſu- chen. Die Redlichkeit, raſtloſe Thaͤtigkeit, um Gutes zu wir- ken, und die gefuͤhlvolle wohlthaͤtige Seele Miegs, hatte auf Stilling einen liebevollen Eindruck gemacht, ſo daß beide herzliche Freunde waren; und in eben dem Verhaͤltniß ſtan- den auch die beiden Frauen gegen einander. Dieſer Beſuch knuͤpfte das Band noch feſter; aber er hatte außerdem noch eine wichtige Wirkung auf Stillings Denkungsart und philoſophiſches Syſtem.
Stilling war durch die Leibnitz-Wolfiſche Philoſo- phie in die ſchwere Gefangenſchaft des Determinismus gera- then — uͤber zwanzig Jahre lang hatte er mit Gebet und Flehen gegen dieſen Rieſen gekaͤmpft, ohne ihn bezwingen zu koͤnnen. Er hat zwar immer die Freiheit des Willens und der menſchlichen Handlungen in ſeinen Schriften behauptet, und gegen alle Einwuͤrfe ſeiner Vernunft auch geglaubt; er hatte auch immer gebetet, obgleich jener Rieſe ihm immer ins Ohr lispelte: dein Beten hilft nicht, denn was Gott in ſeinem Rathſchluß beſchloſſen hat, das geſchieht, du magſt beten oder nicht. Dem allem ungeachtet glaubte und betete Stilling immer fort, aber ohne Licht und Troſt, ſelbſt ſeine Gebets- Erhoͤrungen troͤſteten ihn nicht: denn der Rieſe ſagte, es ſey bloßer Zufall. — Ach Gott! — dieſe Anfechtung war ſchreck- lich! Die ganze Wonne der Religion, ihre Verheißungen die- ſes und des zukuͤnftigen Lebens — dieſer einzige Troſt im Le- ben, Leiden und Sterben, wird zum taͤuſchenden Dunſtbild, ſobald man dem Determinismus Gehoͤr gibt. Mieg wurde von ohngefaͤhr der Retter Stillings aus dieſer Gefangen-
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manns Kenntniſſe waren ſehr ausgebreitet und ausgebildet,
und im Umgang mit Leuten, die nicht unter ihm ſtanden,
war er ſehr angenehm und aͤußerſt unterhaltend.
In dieſem Sommer 1788 kam auch der Kirchenrath Mieg
von Heidelberg mit ſeiner lieben Gattin nach Marburg,
um dortige Freunde und Stilling und Selma zu beſu-
chen. Die Redlichkeit, raſtloſe Thaͤtigkeit, um Gutes zu wir-
ken, und die gefuͤhlvolle wohlthaͤtige Seele Miegs, hatte auf
Stilling einen liebevollen Eindruck gemacht, ſo daß beide
herzliche Freunde waren; und in eben dem Verhaͤltniß ſtan-
den auch die beiden Frauen gegen einander. Dieſer Beſuch
knuͤpfte das Band noch feſter; aber er hatte außerdem noch
eine wichtige Wirkung auf Stillings Denkungsart und
philoſophiſches Syſtem.
Stilling war durch die Leibnitz-Wolfiſche Philoſo-
phie in die ſchwere Gefangenſchaft des Determinismus gera-
then — uͤber zwanzig Jahre lang hatte er mit Gebet und
Flehen gegen dieſen Rieſen gekaͤmpft, ohne ihn bezwingen zu
koͤnnen. Er hat zwar immer die Freiheit des Willens und der
menſchlichen Handlungen in ſeinen Schriften behauptet, und
gegen alle Einwuͤrfe ſeiner Vernunft auch geglaubt; er hatte
auch immer gebetet, obgleich jener Rieſe ihm immer ins Ohr
lispelte: dein Beten hilft nicht, denn was Gott in ſeinem
Rathſchluß beſchloſſen hat, das geſchieht, du magſt beten oder
nicht. Dem allem ungeachtet glaubte und betete Stilling
immer fort, aber ohne Licht und Troſt, ſelbſt ſeine Gebets-
Erhoͤrungen troͤſteten ihn nicht: denn der Rieſe ſagte, es ſey
bloßer Zufall. — Ach Gott! — dieſe Anfechtung war ſchreck-
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ſes und des zukuͤnftigen Lebens — dieſer einzige Troſt im Le-
ben, Leiden und Sterben, wird zum taͤuſchenden Dunſtbild,
ſobald man dem Determinismus Gehoͤr gibt. Mieg wurde
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/452>, abgerufen am 22.11.2024.
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