schaft: er sprach nämlich von einer gewissen Abhandlung über die Philosophie, die ihm außerordentlich gefallen hatte; dann führte er auch das Postulat des Kantischen Moralprinzips an, nämlich: Handle so, daß die Maxime deines Wol- lens jederzeit allgemeines Gesetz seyn könne. Dieß erregte Stillings Aufmerksamkeit: die Neuheit dieses Sa- tzes machte tiefen Eindruck auf ihn; er beschloß, Kants Schrif- ten zu lesen, bisher war er dafür zurückgeschaudert, weil ihm das Studium einer neuen Philosophie -- und zumal die- ser -- ein unübersteiglicher Berg zu seyn schien.
Kants Kritik der reinen Vernunft las er natürlicher Weise zuerst, er faßte ihren Sinn bald, und nun war auf Einmal sein Kampf mit dem Determinismus zu Ende: Kant be- weist da durch unwiderlegbare Gründe, daß die menschliche Vernunft außer den Gränzen der Sinnenwelt ganz und gar nichts weiß -- daß sie in übersinnlichen Dingen, allemal -- so oft sie aus ihren eigenen Prinzip[i]en urtheilt und schließt -- auf Wiedersprüche stößt, das ist: sich selbst widerspricht; dieß Buch ist ein Commentar über die Worte Pauli: der na- türliche Mensch vernimmt nichts von den Dingen, die des Geistes Gottes sind, sie sind ihm eine Thorheit, u. s. w.
Jetzt war Stillings Seele wie emporgeflügelt; es war ihm bisher unerträglich gewesen, daß die menschliche Vernunft, dieß göttliche Geschenk, das uns von den Thieren unterschei- det, der Religion, die ihm über alles theuer war, schnurgerade entgegen seyn sollte; aber nun fand er alles passend und Gott geziemend; er fand die Quelle übersinnlicher Wahrheiten in der Offenbarung Gottes an die Menschen, in der Bibel, und die Quelle aller der Wahrheiten, die zu diesem Erdenleben ge- hören, in Natur und Vernunft. Bei einer Gelegenheit, wo Stilling an Kant schrieb, äußerte er diesem großen Phi- losophen seine Freude und seinen Beifall. Kant antwortete, und in seinem Briefe an ihn standen die ihm ewig unvergeß- lichen Worte:
"Auch darin thun Sie wohl, daß Sie Ihre ein- zige Beruhigung im Evangelio suchen, denn es
ſchaft: er ſprach naͤmlich von einer gewiſſen Abhandlung uͤber die Philoſophie, die ihm außerordentlich gefallen hatte; dann fuͤhrte er auch das Poſtulat des Kantiſchen Moralprinzips an, naͤmlich: Handle ſo, daß die Maxime deines Wol- lens jederzeit allgemeines Geſetz ſeyn koͤnne. Dieß erregte Stillings Aufmerkſamkeit: die Neuheit dieſes Sa- tzes machte tiefen Eindruck auf ihn; er beſchloß, Kants Schrif- ten zu leſen, bisher war er dafuͤr zuruͤckgeſchaudert, weil ihm das Studium einer neuen Philoſophie — und zumal die- ſer — ein unuͤberſteiglicher Berg zu ſeyn ſchien.
Kants Kritik der reinen Vernunft las er natuͤrlicher Weiſe zuerſt, er faßte ihren Sinn bald, und nun war auf Einmal ſein Kampf mit dem Determinismus zu Ende: Kant be- weist da durch unwiderlegbare Gruͤnde, daß die menſchliche Vernunft außer den Graͤnzen der Sinnenwelt ganz und gar nichts weiß — daß ſie in uͤberſinnlichen Dingen, allemal — ſo oft ſie aus ihren eigenen Prinzip[i]en urtheilt und ſchließt — auf Wiederſpruͤche ſtoͤßt, das iſt: ſich ſelbſt widerſpricht; dieß Buch iſt ein Commentar uͤber die Worte Pauli: der na- tuͤrliche Menſch vernimmt nichts von den Dingen, die des Geiſtes Gottes ſind, ſie ſind ihm eine Thorheit, u. ſ. w.
Jetzt war Stillings Seele wie emporgefluͤgelt; es war ihm bisher unertraͤglich geweſen, daß die menſchliche Vernunft, dieß goͤttliche Geſchenk, das uns von den Thieren unterſchei- det, der Religion, die ihm uͤber alles theuer war, ſchnurgerade entgegen ſeyn ſollte; aber nun fand er alles paſſend und Gott geziemend; er fand die Quelle uͤberſinnlicher Wahrheiten in der Offenbarung Gottes an die Menſchen, in der Bibel, und die Quelle aller der Wahrheiten, die zu dieſem Erdenleben ge- hoͤren, in Natur und Vernunft. Bei einer Gelegenheit, wo Stilling an Kant ſchrieb, aͤußerte er dieſem großen Phi- loſophen ſeine Freude und ſeinen Beifall. Kant antwortete, und in ſeinem Briefe an ihn ſtanden die ihm ewig unvergeß- lichen Worte:
„Auch darin thun Sie wohl, daß Sie Ihre ein- zige Beruhigung im Evangelio ſuchen, denn es
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ſchaft: er ſprach naͤmlich von einer gewiſſen Abhandlung uͤber
die Philoſophie, die ihm außerordentlich gefallen hatte; dann
fuͤhrte er auch das Poſtulat des Kantiſchen Moralprinzips an,
naͤmlich: Handle ſo, daß die Maxime deines Wol-
lens jederzeit allgemeines Geſetz ſeyn koͤnne. Dieß
erregte Stillings Aufmerkſamkeit: die Neuheit dieſes Sa-
tzes machte tiefen Eindruck auf ihn; er beſchloß, Kants Schrif-
ten zu leſen, bisher war er dafuͤr zuruͤckgeſchaudert, weil ihm
das Studium einer neuen Philoſophie — und zumal die-
ſer — ein unuͤberſteiglicher Berg zu ſeyn ſchien.
Kants Kritik der reinen Vernunft las er natuͤrlicher Weiſe
zuerſt, er faßte ihren Sinn bald, und nun war auf Einmal
ſein Kampf mit dem Determinismus zu Ende: Kant be-
weist da durch unwiderlegbare Gruͤnde, daß die menſchliche
Vernunft außer den Graͤnzen der Sinnenwelt ganz und gar
nichts weiß — daß ſie in uͤberſinnlichen Dingen, allemal —
ſo oft ſie aus ihren eigenen Prinzipien urtheilt und ſchließt —
auf Wiederſpruͤche ſtoͤßt, das iſt: ſich ſelbſt widerſpricht; dieß
Buch iſt ein Commentar uͤber die Worte Pauli: der na-
tuͤrliche Menſch vernimmt nichts von den Dingen,
die des Geiſtes Gottes ſind, ſie ſind ihm eine
Thorheit, u. ſ. w.
Jetzt war Stillings Seele wie emporgefluͤgelt; es war
ihm bisher unertraͤglich geweſen, daß die menſchliche Vernunft,
dieß goͤttliche Geſchenk, das uns von den Thieren unterſchei-
det, der Religion, die ihm uͤber alles theuer war, ſchnurgerade
entgegen ſeyn ſollte; aber nun fand er alles paſſend und Gott
geziemend; er fand die Quelle uͤberſinnlicher Wahrheiten in
der Offenbarung Gottes an die Menſchen, in der Bibel, und
die Quelle aller der Wahrheiten, die zu dieſem Erdenleben ge-
hoͤren, in Natur und Vernunft. Bei einer Gelegenheit, wo
Stilling an Kant ſchrieb, aͤußerte er dieſem großen Phi-
loſophen ſeine Freude und ſeinen Beifall. Kant antwortete,
und in ſeinem Briefe an ihn ſtanden die ihm ewig unvergeß-
lichen Worte:
„Auch darin thun Sie wohl, daß Sie Ihre ein-
zige Beruhigung im Evangelio ſuchen, denn es
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/453>, abgerufen am 22.11.2024.
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