am ersten Ostertag Morgen vor der Kirche, und der gräfliche Leibchirurgus besorgte den Verband.
Unter diesen Blinden war eine junge Frau von 28 Jahren, welche auf dem Heimwege von Andreasberg nach Ilsen- burg an der Seite des Brocken eingeschneit worden; der Schnee war so stark und so häufig gefallen, daß er ihr end- lich über dem Kopf zusammen gegangen war, und sie nun nicht weiter fort konnte; sie hatte 24 Stunden in einer ruhi- gen Betäubung gelegen, als man sie fand. Der ganze Unfall hatte ihrer Gesundheit weiter nicht geschadet, außer daß sie vollkommen staarblind geworden war; sie wurde nun wieder sehend.
Dann waren auch ein alter Mann und seine alte Schwe- ster unter diesen Blinden; Beide hatten eine lange Reihe von Jahren den grauen Staar gehabt, und sich also in zwanzig Jahren nicht gesehen. Als sie nun Beide geheilt waren, und zuerst wieder zusammen kamen, so war ihre erste Empfindung, daß sie sich Beide anstaunten und verwunderten, wie sie so alt ausschen.
Die Tage, die Stilling hier im Vorhof des Himmels verlebte, sind ihm ewig unvergeßlich. Acht Tage nach Ostern reiste er wieder nach Marburg.
Nach einigen Wochen kam die liebe gräflich-Wernigero- dische Familie durch Marburg, um in die Schweiz zu reisen; Stilling und Selma wurden von ihr besucht und bei dieser Gelegenheit äußerte der Graf den Gedanken, daß Er mit seiner Reisegesellschaft künftigen 12. September wie- der bei ihm seyn, und dann mit ihm seinen Geburtstag feiern wollte. Der edle Mann hielt Wort; den 12. September, welcher Stillings 50ster Geburtstag war, kam die ganze Reisegesellschaft glücklich, gesund und vergnügt wieder in Mar- burg an.
Ein guter Freund aus der Suite des Grafen hatte ein paar Tage vorher Selma einen Wink davon gegeben, sie hatte also auf den Abend ein großes Mahl veranstaltet, zu welchem auch Raschmann mit seinen Grafen, nebst noch andern lieben Marburgern eingeladen waren, daß hierbei
am erſten Oſtertag Morgen vor der Kirche, und der graͤfliche Leibchirurgus beſorgte den Verband.
Unter dieſen Blinden war eine junge Frau von 28 Jahren, welche auf dem Heimwege von Andreasberg nach Ilſen- burg an der Seite des Brocken eingeſchneit worden; der Schnee war ſo ſtark und ſo haͤufig gefallen, daß er ihr end- lich uͤber dem Kopf zuſammen gegangen war, und ſie nun nicht weiter fort konnte; ſie hatte 24 Stunden in einer ruhi- gen Betaͤubung gelegen, als man ſie fand. Der ganze Unfall hatte ihrer Geſundheit weiter nicht geſchadet, außer daß ſie vollkommen ſtaarblind geworden war; ſie wurde nun wieder ſehend.
Dann waren auch ein alter Mann und ſeine alte Schwe- ſter unter dieſen Blinden; Beide hatten eine lange Reihe von Jahren den grauen Staar gehabt, und ſich alſo in zwanzig Jahren nicht geſehen. Als ſie nun Beide geheilt waren, und zuerſt wieder zuſammen kamen, ſo war ihre erſte Empfindung, daß ſie ſich Beide anſtaunten und verwunderten, wie ſie ſo alt ausſchen.
Die Tage, die Stilling hier im Vorhof des Himmels verlebte, ſind ihm ewig unvergeßlich. Acht Tage nach Oſtern reiste er wieder nach Marburg.
Nach einigen Wochen kam die liebe graͤflich-Wernigero- diſche Familie durch Marburg, um in die Schweiz zu reiſen; Stilling und Selma wurden von ihr beſucht und bei dieſer Gelegenheit aͤußerte der Graf den Gedanken, daß Er mit ſeiner Reiſegeſellſchaft kuͤnftigen 12. September wie- der bei ihm ſeyn, und dann mit ihm ſeinen Geburtstag feiern wollte. Der edle Mann hielt Wort; den 12. September, welcher Stillings 50ſter Geburtstag war, kam die ganze Reiſegeſellſchaft gluͤcklich, geſund und vergnuͤgt wieder in Mar- burg an.
Ein guter Freund aus der Suite des Grafen hatte ein paar Tage vorher Selma einen Wink davon gegeben, ſie hatte alſo auf den Abend ein großes Mahl veranſtaltet, zu welchem auch Raſchmann mit ſeinen Grafen, nebſt noch andern lieben Marburgern eingeladen waren, daß hierbei
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0457"n="449"/>
am erſten Oſtertag Morgen vor der Kirche, und der graͤfliche<lb/>
Leibchirurgus beſorgte den Verband.</p><lb/><p>Unter dieſen Blinden war eine junge Frau von 28 Jahren,<lb/>
welche auf dem Heimwege von <hirendition="#g">Andreasberg</hi> nach <hirendition="#g">Ilſen-<lb/>
burg</hi> an der Seite des <hirendition="#g">Brocken</hi> eingeſchneit worden; der<lb/>
Schnee war ſo ſtark und ſo haͤufig gefallen, daß er ihr end-<lb/>
lich uͤber dem Kopf zuſammen gegangen war, und ſie nun<lb/>
nicht weiter fort konnte; ſie hatte 24 Stunden in einer ruhi-<lb/>
gen Betaͤubung gelegen, als man ſie fand. Der ganze Unfall<lb/>
hatte ihrer Geſundheit weiter nicht geſchadet, außer daß ſie<lb/>
vollkommen ſtaarblind geworden war; ſie wurde nun wieder<lb/>ſehend.</p><lb/><p>Dann waren auch ein alter Mann und ſeine alte Schwe-<lb/>ſter unter dieſen Blinden; Beide hatten eine lange Reihe von<lb/>
Jahren den grauen Staar gehabt, und ſich alſo in zwanzig<lb/>
Jahren nicht geſehen. Als ſie nun Beide geheilt waren, und<lb/>
zuerſt wieder zuſammen kamen, ſo war ihre erſte Empfindung,<lb/>
daß ſie ſich Beide anſtaunten und verwunderten, wie ſie ſo alt<lb/>
ausſchen.</p><lb/><p>Die Tage, die <hirendition="#g">Stilling</hi> hier im Vorhof des Himmels<lb/>
verlebte, ſind ihm ewig unvergeßlich. Acht Tage nach Oſtern<lb/>
reiste er wieder nach <hirendition="#g">Marburg</hi>.</p><lb/><p>Nach einigen Wochen kam die liebe graͤflich-<hirendition="#g">Wernigero-<lb/>
diſche</hi> Familie durch <hirendition="#g">Marburg</hi>, um in die Schweiz zu<lb/>
reiſen; <hirendition="#g">Stilling</hi> und <hirendition="#g">Selma</hi> wurden von ihr beſucht und<lb/>
bei dieſer Gelegenheit aͤußerte der Graf den Gedanken, daß<lb/><hirendition="#g">Er</hi> mit ſeiner Reiſegeſellſchaft kuͤnftigen 12. September wie-<lb/>
der bei ihm ſeyn, und dann mit ihm ſeinen Geburtstag feiern<lb/>
wollte. Der edle Mann hielt Wort; den 12. September,<lb/>
welcher <hirendition="#g">Stillings</hi> 50ſter Geburtstag war, kam die ganze<lb/>
Reiſegeſellſchaft gluͤcklich, geſund und vergnuͤgt wieder in <hirendition="#g">Mar-<lb/>
burg</hi> an.</p><lb/><p>Ein guter Freund aus der Suite des Grafen hatte ein<lb/>
paar Tage vorher <hirendition="#g">Selma</hi> einen Wink davon gegeben, ſie<lb/>
hatte alſo auf den Abend ein großes Mahl veranſtaltet, zu<lb/>
welchem auch <hirendition="#g">Raſchmann</hi> mit ſeinen Grafen, nebſt noch<lb/>
andern lieben <hirendition="#g">Marburgern</hi> eingeladen waren, daß hierbei<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[449/0457]
am erſten Oſtertag Morgen vor der Kirche, und der graͤfliche
Leibchirurgus beſorgte den Verband.
Unter dieſen Blinden war eine junge Frau von 28 Jahren,
welche auf dem Heimwege von Andreasberg nach Ilſen-
burg an der Seite des Brocken eingeſchneit worden; der
Schnee war ſo ſtark und ſo haͤufig gefallen, daß er ihr end-
lich uͤber dem Kopf zuſammen gegangen war, und ſie nun
nicht weiter fort konnte; ſie hatte 24 Stunden in einer ruhi-
gen Betaͤubung gelegen, als man ſie fand. Der ganze Unfall
hatte ihrer Geſundheit weiter nicht geſchadet, außer daß ſie
vollkommen ſtaarblind geworden war; ſie wurde nun wieder
ſehend.
Dann waren auch ein alter Mann und ſeine alte Schwe-
ſter unter dieſen Blinden; Beide hatten eine lange Reihe von
Jahren den grauen Staar gehabt, und ſich alſo in zwanzig
Jahren nicht geſehen. Als ſie nun Beide geheilt waren, und
zuerſt wieder zuſammen kamen, ſo war ihre erſte Empfindung,
daß ſie ſich Beide anſtaunten und verwunderten, wie ſie ſo alt
ausſchen.
Die Tage, die Stilling hier im Vorhof des Himmels
verlebte, ſind ihm ewig unvergeßlich. Acht Tage nach Oſtern
reiste er wieder nach Marburg.
Nach einigen Wochen kam die liebe graͤflich-Wernigero-
diſche Familie durch Marburg, um in die Schweiz zu
reiſen; Stilling und Selma wurden von ihr beſucht und
bei dieſer Gelegenheit aͤußerte der Graf den Gedanken, daß
Er mit ſeiner Reiſegeſellſchaft kuͤnftigen 12. September wie-
der bei ihm ſeyn, und dann mit ihm ſeinen Geburtstag feiern
wollte. Der edle Mann hielt Wort; den 12. September,
welcher Stillings 50ſter Geburtstag war, kam die ganze
Reiſegeſellſchaft gluͤcklich, geſund und vergnuͤgt wieder in Mar-
burg an.
Ein guter Freund aus der Suite des Grafen hatte ein
paar Tage vorher Selma einen Wink davon gegeben, ſie
hatte alſo auf den Abend ein großes Mahl veranſtaltet, zu
welchem auch Raſchmann mit ſeinen Grafen, nebſt noch
andern lieben Marburgern eingeladen waren, daß hierbei
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/457>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.