Dies Gebet wurde erhört, er trat beruhigt in sein Haus, der Friede Gottes thronte in seiner Brust; er hatte dem Herrn dieß große Opfer gebracht, und Er hatte es gnädig an- genommen. Von nun an sahe er Selma nur noch zwei- mal wenige Augenblicke: denn seine physische Natur litt zu sehr, und man fürchtete, sie möchte es nicht aushalten, er ließ sich also rathen und hielt sich entfernt.
Des folgenden Tages am Nachmittag ging er noch einmal zu ihr, sie hatte schon den Kinnbacken-Zwang; Elise saß auf dem Sopha und ruhte; jetzt erhob Selma den halber- loschenen Blick, schaute ihren Mann sehnlich an, und winkte dann auf Elise -- Stilling schlug die Augen nieder und entfernte sich.
Des folgenden Morgens ging er noch einmal an ihr Bett -- Nein! den Anblick vergißt er nie Morgenröthe der Ewigkeit glänzte auf ihrem Angesicht. Ist dir wohl? fragte er sie -- Vernehmlich hauchte sie zwischen den zugeklemmten Zähnen durch: O Ja! Stilling wankte fort, und sahe sie nicht wie- der: denn so stark auch sein Geist war, so sehr wurde doch seine physische Natur und sein Herz erschüttert, auch Elise konnte ihrer Freundin Sterben nicht sehen, sondern Mutter Coing drückte ihr die Augen zu. -- Sie entschlief die fol- gende Nacht den 23. Mai, Morgens um Ein Uhr; man kam weinend an Stillings Bett, es ihm zu sagen: "Herr dein Wille geschehe!" war seine Antwort.
Selma! -- todt! -- das Weib, auf welches Stilling stolz war? -- todt? -- das will viel sagen. Ja, in seiner Seele thronte hoher Friede, aber dennoch war sein Zustand unbeschreiblich, seine Natur entsetzlich erschüttert -- der im- merfort quälende Magenkrampf hatte ohnehin schon sein Ner- vensystem auf einen hohen Grad gespannt, und dieser Schlag hätte es ganz zerrütten können, wenn ihn Gottes Vatergüte nicht unterstützt -- oder in der Modesprache zu reden: wenn er nicht eine so starke Natur gehabt hätte. Es war nun todt und stille um ihn her -- bei Christinens Abschied war er
Dies Gebet wurde erhoͤrt, er trat beruhigt in ſein Haus, der Friede Gottes thronte in ſeiner Bruſt; er hatte dem Herrn dieß große Opfer gebracht, und Er hatte es gnaͤdig an- genommen. Von nun an ſahe er Selma nur noch zwei- mal wenige Augenblicke: denn ſeine phyſiſche Natur litt zu ſehr, und man fuͤrchtete, ſie moͤchte es nicht aushalten, er ließ ſich alſo rathen und hielt ſich entfernt.
Des folgenden Tages am Nachmittag ging er noch einmal zu ihr, ſie hatte ſchon den Kinnbacken-Zwang; Eliſe ſaß auf dem Sopha und ruhte; jetzt erhob Selma den halber- loſchenen Blick, ſchaute ihren Mann ſehnlich an, und winkte dann auf Eliſe — Stilling ſchlug die Augen nieder und entfernte ſich.
Des folgenden Morgens ging er noch einmal an ihr Bett — Nein! den Anblick vergißt er nie Morgenroͤthe der Ewigkeit glaͤnzte auf ihrem Angeſicht. Iſt dir wohl? fragte er ſie — Vernehmlich hauchte ſie zwiſchen den zugeklemmten Zaͤhnen durch: O Ja! Stilling wankte fort, und ſahe ſie nicht wie- der: denn ſo ſtark auch ſein Geiſt war, ſo ſehr wurde doch ſeine phyſiſche Natur und ſein Herz erſchuͤttert, auch Eliſe konnte ihrer Freundin Sterben nicht ſehen, ſondern Mutter Coing druͤckte ihr die Augen zu. — Sie entſchlief die fol- gende Nacht den 23. Mai, Morgens um Ein Uhr; man kam weinend an Stillings Bett, es ihm zu ſagen: „Herr dein Wille geſchehe!“ war ſeine Antwort.
Selma! — todt! — das Weib, auf welches Stilling ſtolz war? — todt? — das will viel ſagen. Ja, in ſeiner Seele thronte hoher Friede, aber dennoch war ſein Zuſtand unbeſchreiblich, ſeine Natur entſetzlich erſchuͤttert — der im- merfort quaͤlende Magenkrampf hatte ohnehin ſchon ſein Ner- venſyſtem auf einen hohen Grad geſpannt, und dieſer Schlag haͤtte es ganz zerruͤtten koͤnnen, wenn ihn Gottes Vaterguͤte nicht unterſtuͤtzt — oder in der Modeſprache zu reden: wenn er nicht eine ſo ſtarke Natur gehabt haͤtte. Es war nun todt und ſtille um ihn her — bei Chriſtinens Abſchied war er
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Dies Gebet wurde erhoͤrt, er trat beruhigt in ſein Haus,
der Friede Gottes thronte in ſeiner Bruſt; er hatte dem
Herrn dieß große Opfer gebracht, und Er hatte es gnaͤdig an-
genommen. Von nun an ſahe er Selma nur noch zwei-
mal wenige Augenblicke: denn ſeine phyſiſche Natur litt zu
ſehr, und man fuͤrchtete, ſie moͤchte es nicht aushalten, er ließ
ſich alſo rathen und hielt ſich entfernt.
Des folgenden Tages am Nachmittag ging er noch einmal
zu ihr, ſie hatte ſchon den Kinnbacken-Zwang; Eliſe ſaß
auf dem Sopha und ruhte; jetzt erhob Selma den halber-
loſchenen Blick, ſchaute ihren Mann ſehnlich an, und winkte
dann auf Eliſe — Stilling ſchlug die Augen nieder und
entfernte ſich.
Des folgenden Morgens ging er noch einmal an ihr Bett —
Nein! den Anblick vergißt er nie Morgenroͤthe der Ewigkeit
glaͤnzte auf ihrem Angeſicht. Iſt dir wohl? fragte er ſie —
Vernehmlich hauchte ſie zwiſchen den zugeklemmten Zaͤhnen
durch: O Ja! Stilling wankte fort, und ſahe ſie nicht wie-
der: denn ſo ſtark auch ſein Geiſt war, ſo ſehr wurde doch
ſeine phyſiſche Natur und ſein Herz erſchuͤttert, auch Eliſe
konnte ihrer Freundin Sterben nicht ſehen, ſondern Mutter
Coing druͤckte ihr die Augen zu. — Sie entſchlief die fol-
gende Nacht den 23. Mai, Morgens um Ein Uhr; man kam
weinend an Stillings Bett, es ihm zu ſagen: „Herr dein
Wille geſchehe!“ war ſeine Antwort.
Selma! — todt! — das Weib, auf welches Stilling
ſtolz war? — todt? — das will viel ſagen. Ja, in ſeiner
Seele thronte hoher Friede, aber dennoch war ſein Zuſtand
unbeſchreiblich, ſeine Natur entſetzlich erſchuͤttert — der im-
merfort quaͤlende Magenkrampf hatte ohnehin ſchon ſein Ner-
venſyſtem auf einen hohen Grad geſpannt, und dieſer Schlag
haͤtte es ganz zerruͤtten koͤnnen, wenn ihn Gottes Vaterguͤte
nicht unterſtuͤtzt — oder in der Modeſprache zu reden: wenn
er nicht eine ſo ſtarke Natur gehabt haͤtte. Es war nun todt
und ſtille um ihn her — bei Chriſtinens Abſchied war er
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/464>, abgerufen am 22.11.2024.
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